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10 Monate Bundeswehr, Teil 3: Der Chor

Das Freizeitangebot auf Sylt war einfach super. Neben Ballsportarten wurden auch Kraftsport, Tauchen und Kampfsport angeboten. Leider war man nach den meisten Tagen so erschöpft, dass man dieses Angebot nicht wahrnehmen konnte.
Ich habe mich dennoch für den Chor der Marineversorgungsschule entschieden. Das bedeutete 2mal die Woche 2 Stunden Probe. Doch ich bin dort gerne hingegangen. Die Atmosphäre war gleich entspannt, und wir konnten abschalten von dem harten Umgangston. Unser Chorleiter (Hauptbootsmann) brachte immer gute Stimmung auf, so dass auch hier Freundschaften aufkamen.

Gospels und Seemannslieder

Das Verhältnis zu ihm war auch sehr locker, so dass kein Druck auf uns lastete. Im Chor waren nicht nur die Sanitäter, sondern auch alle anderen Verwendungen. Man lernte also viele Neue kennen.
Das Größte waren die Auftritte mit dem Chor, so z.B. in Westerland auf der Kurpromenade. Wir sangen vor etwa 2000 Leuten alte Seemannslieder, aber auch moderne Gospels. Und die Leute waren immer wieder begeistert. Es wurde viel applaudiert, und wir hatten unseren Spass, vor einem so großen Publikum auftreten zu können.
Der Höhepunkt der Chorarbeit war für uns zugleich der Abschluss der AGA. Wir durften zum Tag der deutschen Einheit nach Berlin und Dresden reisen um dort zu den offiziellen Feiern zu singen. Während die anderen also die Gebäude grundreinigen durften, wurden wir mit BW-Bussen durch Deutschland gefahren. Immerhin opferten wir viel Freizeit für diese Reise, aber auch das gerne. Aber schon in den Bussen spürten wir, dass diese Reise etwas ganz besonderes werden sollte, wie es uns unser Chorleiter schon häufiger vorhergesagt hatte.
Wir kannten natürlich alle die gleichen Lieder. Also sangen wir gemeinsam auf der Fahrt. Aber auch Musik aus dem Radio wurde akzeptiert, und wir tanzten auf den Gängen. Durch gemeinsame Gespräche auf der langen Busfahrt lernte man sich dann auch näher kennen. Der Abschied von Sylt war schon ganz vergessen. Einige waren froh, endlich diese Insel verlassen zu können, und feierten deshalb noch intensiver.
Als erstes wurden wir in Berlin in einer Kaserne untergebracht. Da bereits schon Abend war durften wir allein die Stadt erkunden. Und das taten wir dann auch ausgiebig. Die Kneipen und das übrige Stadtzentrum wurden bis spät in die Nacht unter die Lupe genommen.
Am nächsten Tag besuchten wir das Potsdamer Schloss, wo wir natürlich gleich im Hofgarten unsere Sangeskünste unter Beweis stellten. Die Leute waren begeistert: ein Marinechor in Potsdam. Wir bekamen auch eine Führung mit, so dass auch das kulturelle Programm ausreichend vorhanden war.

Matrosenchor erobert Berlin

Später am Tag waren wir im Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen, um auch dort zu singen und natürlich Kultur (Führung) mitzubekommen. Am Abend schliesslich waren wir noch bei einem Mitglied vom Berliner Stadtrat eingeladen, wo unsere Sangeskünste gleich mit einem großen Mahl und viel Wein belohnt wurde. Am Schluss hat sogar jeder einen kleinen Orden als Erinnerung erhalten.
Am nächsten Tag ging es auf eine Stadtrundfahrt durch Berlin, bei der alle wichtigen Sehenswürdigkeiten abgeklappert wurden. Dabei kam es auch zu spontanen Auftritten vor dem Brandenburger Tor und auf der Reichstagskuppel, jedes Mal von einem Meer von Zuschauern begleitet. Auch hier kam wieder ein Gefühl von Begeisterung in uns auf. Die Leute waren sehr angetan: Wann sieht man schon mal einen Matrosenchor mitten in Berlin?
Nach einem so erlebnisreichen Tag nahm unser Chorleiter noch einige seiner Jungs mit in eine Disco, die er von früher kannte. Ich war glücklicherweise dabei, so dass ich auch mal in den Genuss kam, das Berliner Night-feeling zu erleben.
Übrigens begegnete uns Rezzo Schlauch zufällig, der aber nur einen abschätzigen Blick für uns übrig hatte.

Dresden

Am nächsten Tag kamen wir schon zur Weiterfahrt nach Dresden, wo die eigentlichen Feiern zur deutschen Einheit stattfanden. Dresden selber, so wurde uns schon beim ersten Rundgang bewusst, ist eine wunderschöne Stadt mit vielen historischen Gebäuden. Die Strassen waren, aufgrund der Feiern, voll. Aber bei der Ankunft wurden wir zunächst etwas enttäuscht. Als wir in Uniform mit dem BW-Bus abgesetzt wurden, zeigten uns ein paar Jugendliche den Hitler-Gruss. Darüber waren wir schockiert, denn so hatten wir uns nie gesehen. Daß uns aber andere dieser Richtung zuordneten, war uns bis dahin nie bewusst. Keiner von uns hatte jemals irgendwelche rechten Tendenzen gezeigt. Solche Vorurteile sind wirklich schade.
Nach diesem Schock gingen wir durch die Stadt zu unserer Bühne. Viele Menschen blieben stehen und bewunderten unseren Matrosen-Look. Auch unsere Bühne wurde zum Publikumsmagnet. Das Publikum hier war allerdings anders als auf Sylt. Hier sahen die Menschen uns eher skeptisch zu, während sie auf Sylt direkt begeistert mitklatschten. Nach diesem Auftritt durften wir bei der Aufzeichnung einer TV-Show zu den Feierlichkeiten teilnehmen. Heino und Frank Zander live und so nah. Natürlich auch nicht jedermanns Sache, aber mal ganz interessant anzusehen.

Am Abend kam es dann noch zu gelegentlichen Kurzauftritten mit kleiner Besetzung in einigen Kneipen. Das hatten wir von unserem Chorleiter gelernt. Und wir sahnten auch kräftig ab. In jeder Bar in der Altstadt drei bis vier Lieder, und es fand sich immer ein spendabler Mensch, der unsere Kehlen nicht vertrocknen liess. Auch wenn unser (mittlerweile) Stabsbootsmann manchmal auch ein bisschen nachhelfen musste: "...unsere Kehlen sind so trocken...". Die Unterkunft der BW war diesmal fast Luxus. Einzelzimmer mit Dusche und WC. Darum waren wir am nächsten Morgen wenigstens wieder einigermaßen fit. Immerhin hatten wir noch zwei Auftritte, bei denen wir, es waren ja unsere letzten, alles geben und damit positiv auffallen wollten. Zwischen den Auftritten durften wir uns auch die anderen Stände ansehen.
Am letzten gemeinsamen Abend feierten wir dann noch ein rauschendes Fest. Ein Kamerad hatte Geburtstag und darauf wurde natürlich kräftig getrunken. Völlig erschöpft, nach einer so erlebnisreichen und lustigen Fahrt, sanken wir in die Betten. Uns war dabei nicht bewusst, dass mit dem Ende dieser Fahrt einer der schönsten Teile der BW vorbei war.

Das Ende der fröhlichen Gruppe

Erst am nächsten Morgen wurde uns bewusst, dass wir uns so schnell nicht wieder sehen sollten, denn immerhin wurden wir alle an die verschiedensten Standorte versetzt. Letzte Telefonnummern wurden ausgetauscht, aber es war klar, dass wir in dieser fröhlichen Gruppe nicht mehr zusammenkommen würden. Einige Kontakte halten jedoch noch, und man kann sagen: man hat auch richtige Freunde bekommen. Nun wurde man also in verschiedene Züge gesetzt und sah einem neuen Lebensabschnitt entgegen.

Im Zug von Dresden nach Bonn (ich bin Gott sei dank heimatnah versetzt worden) spürte ich auch wieder die anfänglichen Fragen: "Was kommt nun auf mich zu?"

Holger Stawitz

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