Editorial

Des Kanzlers Moral

Gibt Gerhard Schröder den Lebensschutz der politischen Beliebigkeit preis?

Da hatte der Bundeskanzler gerade noch einmal Glück gehabt. Gerade zu der Zeit, wo er eigentlich ordentlich Schelte verdient gehabt hätte, kam ihm die Opposition zur Hilfe. Mit ihrem Renten-Verbrecher-Plakat zog die CDU den gesamten Groll der politisch korrekten deutschen Öffentlichkeit auf sich. Doch viel mehr als eine Verschnaufpause wird es für Schröder nicht sein, denn das von ihm angeschnittene Thema brennt auf den Nägeln.
Die Rede ist von der Debatte, die durch den Beschluss des britischen Parlaments ausgelöst wurde, nach dem auf der Insel zukünftig "therapeutisches" Klonen erlaubt sein soll. (Hiermit sind gentechnische Experimente mit menschlichen Embryonen zur Erforschung möglicher Therapien für bestimmte Krankheiten, z.B. dem Parkinson-Syndrom, gemeint -) Der Bundeskanzler hatte sich in die Diskussion mit der Äußerung eingeschaltet, auch in Deutschland müsse über diese Frage "ohne ideologische Scheuklappen" diskutiert werden.
Obwohl er sich damit äußerlich noch nicht inhaltlich festgelegt hat, ist die Zielrichtung dieser Äußerung klar. Denn die gesellschaftlichen Gruppen, die sich zu diesem Thema bisher wesentlich geäußert haben, sind die Kirchen und Teile der grün-alternativen Bewegung.

Richtungsweisende Entscheidungen

Die ablehnende Haltung dieser beiden Gruppen zur Forschung an menschlichen Embryonen ist bekannt. Außerdem ist es nicht schwer, sowohl der einen als auch der anderen Gruppe moralische Verbohrtheit zu unterstellen. Schließlich kommt noch hinzu, dass der britische Klon-Beschluss unter der Regierung von Schröders politischem Freund Tony Blair gefallen ist.
Auch verschiedene personalpolitische Entscheidungen des deutschen Kanzlers deuten darauf hin, dass dieser keine großen moralischen Probleme damit hat, auch in Deutschland das Klonen von menschlichen Embryonen zu erlauben. So etwa die Regelung der Nachfolge von Michael Naumann. Da dieser eine Position als Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit" attraktiver fand als eine Position im Kabinett Schröder, setzte der Kanzler als neuen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin ein. Als Bioethiker hat dieser sich in recht fragwürdiger Weise über Embryonen geäußert, indem er ihnen schlichtweg die Würde und damit den durch das Grundgesetz garantierten Schutz absprach.

Personelle Weichenstellungen

Auch die Nachfolge der im Zuge der BSE-Krise zurückgetretenen Gesundheitsministerin Andrea Fischer weist in die gleiche Richtung. Während die Grünen-Politikerin Fischer eine Gesetzesinitiative zum Schutz der Embryonen plante (wofür sie auch Beifall aus Unionskreisen bekam), hat die neue Ministerin Ulla Schmidt derartige Planungen trotz des akuten Bedarfs erst einmal aufs Abstellgleis verschoben.
Die Äußerungen Nida-Rümelins, der in seiner neuen Stellung als Staatsminister für Kultur so etwas wie eine besondere moralische Instanz darstellen soll, sind so tiefgreifend, dass sie an dieser Stelle noch etwas genauer beleuchtet werden sollten. Der Schöngeist aus München argumentiert, dass ein Embryo keine Menschwürde habe, weil ihm die Selbstachtung fehle. Abgesehen von der Anmaßung, Richtlinien für die Vergabe von Menschwürde aufzustellen, führt Nida-Rümelins Argumente konsequent zu Ende gedacht zu schockierenden Resultaten. Nicht nur Embryonen, sondern auch alle anderen nicht zur Selbstachtung fähigen Menschen wären demzufolge würdelos und somit vogelfrei. Beispielweise Menschen mit schweren geistigen Behinderungen oder vielleicht auch Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium.

Wer vergibt die Menschenwürde?

Die Frage muss erlaubt sein, wann - nach Nida-Rümelin - der Mensch denn seine Würde bekommen soll. In der zweiten Wochen nach der Befruchtung? Im dritten Monat? Oder warum überhaupt schon vor der Geburt? Die ersten Regungen eines Neugeborenen wie Saugen, Greifen und Schreien sind ja mehr naturgegebene Reflexe, die auch bei Tieren zu beobachten sind, als dass sie aus irgendeiner Art von Selbsterkenntnis herrühren würden. Wenn es politisch korrekt wäre, müsste man hier fragen, inwieweit sich die Gedanken Nida-Rümelins von dem unterscheiden, was vor gut sechzig Jahren in Deutschland behinderten Mitbürgern unter dem Decknamen "Euthanasie" angetan hat.
In einem hat Kanzler Schröder sicher recht: Das Thema muss diskutiert werden. Wie soll aber eine solche Diskussion geführt werden können, wenn Schröder mit seinem Totschlag-Argument "ideologische Scheuklappen" zwei wichtige gesellschaftliche Gruppen quasi schon im Voraus von der Auseinandersetzung ausgeschlossen hat? Und ob Schröder mit dem möglichen Resultat der Diskussion glöcklich sein wird, ist ebenfalls fraglich.
Die alles entscheidende Fragestellung in der Diskussion ist: "Was ist menschliches Leben? Wo beginnt es? Wo hört es auf?" Diese Frage wurde schon bei der Neuregelung der Abtreibungsgesetze regelmäßig elegant umschifft. Nun tritt sie wieder auf und müsste bei einer konsequenten Schlussfolgerung auch zur Revision der vorgenannten Gesetzgebung fähren.

Nur eine sinnvolle Grenze

Es werden zwar in verschiedenen Kreisen immer wieder verschiedene Grenzen für den Beginn menschlichen Lebens genannt (z.B. das Vorhandensein eines Nervensystems, Schmerzempfinden etc.) Doch erscheinen diese bei genauerer Betrachtung ziemlich willkürlich bzw. so zurecht gezimmert, dass sie der benutzenden Person gerade ins Konzept passten. Wie ausgereift sollte den beispielsweise das Nervensystem sein, oder ab welchem Gehirnvolumen ist der Mensch wirklich Mensch?
Eine einzige Grenze ist wissenschaftlich wirklich haltbar und nicht der Willkür unterworfen: Die genetisch vorgegebenen Merkmale eines Menschen sind von dem Zeitpunkt an eindeutig bestimmt, wo Ei- und Samenzelle verschmelzen.

Sprachfassaden

Der Mensch ist also einzigartig (und damit ein Individuum) vom Zeitpunkt der Befruchtung an. Darüber können auch in der Diskussion oft gebrauchte Wörter wie Zygote, Achtzellstadium oder "himbeerähnliches Gebilde" nicht hinwegtäuschen. Die Benutzer dieser Begriffe setzen sich dem Verdacht aus, bewusst oder aus Unwissenheit zu verschleiern, dass es sich auch in diesem frühen Stadium schon um menschliches Leben handelt.
Zum Thema "Sprachgebrauch" ist noch weiteres zu sagen: Das in Großbritannien nun erlaubte Verfahren wird als "therapeutisches Klonen" bezeichnet, um herauszustellen, dass hierbei die Heilung von Krankheiten das Ziel ist. Zur Unterstützung ihrer Argumente haben Befürworter des Klonierungs-Verfahrens sich auch von aktuell an entsprechenden Krankheiten leidenden Personen unterstützen lassen. Diese sollten den Skeptikern vor Augen führen, wie unmoralisch ihre Ablehnung doch sei. Frei nach dem Motto: "Willst du verhindern, dass ich wieder gesund werde?"
Abgesehen von der Tatsache, dass die Forschungen erst am Anfang stehen und gewiss noch zehn, zwanzig Jahre vergehen würden, bis derartige Therapien einsatzreif wären, verschleiert die Sprachregelung, dass für die Gesundheit eines Menschen hier hunderte oder gar tausende menschliche Individuen ihr Leben lassen müssten. Die Rechnung "eine Eizelle, ein Zellkern, ein Klon" geht nämlich nicht auf. Die Fehlerrate bei Klonierungsversuchen ist derartig hoch, dass zur Linderung von "tausendfachem Leid" hier Millionen von Embryonen erzeugt und das Verenden eines Großteils von ihnen bewusst in Kauf genommen werden müsste. Außerdem gibt es renommierte Wissenschaftler wie den Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ernst-Ludwig Winnacker, der von "reinen Heilsversprechen" mit "fiktiven Erfolgsaussichten" spricht. Ob dies wirklich den Titel "therapeutisch" verdient hat?
Es erscheint fraglich, ob sich Schröder über die Tragweite seines Scheuklappen-Ausspruchs im Klaren war. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass der Kanzler hier nach inzwischen berühmt-berüchtigter Hurra-Manier "Ich bin Kanzler der Bosse und tue etwas für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland" sich als Macher inszenieren wollte.

M.W.