Satire

Die Reise nach Bonn

Bonn. Ein verregneter Abend. Der Bundestag befindet sich im Wochenende. Nur einige SpitzenpolitikerInnen der SPD lümmeln sich lustlos im Sitzungssaal F14 der Parteizentrale, dem Erich-Ollenhauer-Haus. Sie wollen Strategie und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 1998 festlegen.

Oskar Lafontaine (von zwei sonnenbebrillten Bodyguards mit Goldkettchen und Tätowierungen auf den Handrücken begleitet): Also GenossInnen, der Dicke ist uns wieder einen Schritt zuvorgekommen. Er hat seinen Nachfolger bestimmt. Wir stehen vor einem völlig neuen Problem: Es heißt Helmut Kohl. (Tiefes Seufzen geht durch den Saal.) Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als die Grundzüge des ersten Vorabentwurfs des Diskussionspapiers für Vorschläge zu unserem Wahlprogramm einerseits und unseren Kanzlerkandidaten andererseits schon heute abend zu klären.
Rudolf Scharping: Genau das habe -
Gerhard Schröder: Was den Kanzlerkandidaten angeht, bin ich einverstanden. Dafür kommt nämlich nur einer in Frage ...
Alle (im Chor): ICH!
Betretenes Schweigen. Ein leichtes Klirren, als das Bild von Herbert Wehner an der Wand einen Sprung bekommt.
Heide Simonis: Es wird endlich einmal Zeit, daß eine Frau ....
Ingrid Matthäus-Maier: ... eine finanziell beschlagene Frau ...
Andrea Nahles: ...eine junge Frau ...
Wolfgang Thierse: ...ein Ossi ...
Otto Schily: ...ein Spitzenjurist...
Johannes Rau: ...ein erfahrener Christ...
Rudolf Scharping: ...
Manfred Stolpe: ...ein Kenner der intimsten Geheimnisse des Volkes ...
Kurt Beck: ... ein Weinkenner -hick!- ...
Lafontaine: ... Bundeskanzler wird!
Ein weiterer Sprung bildet sich im Porträt von Herbert Wehner.
Vier Stunden später. Alle stimmen immerhin überein, sich uneinig zu sein.

Hans-Ulrich Klose: Bleibt ein letzter Versuch, den ich einaml in Hamburg anwandte. Laßt uns in die Zukunft schauen.
Scharping (blickt vorsichtig zu Lafontaine, der unmerklich nickt): Aber wie soll das gehen? Die allwissende Kristallkugel ist im Besitz von Zukunftsminister Jürgen Rüttgers. Außerdem soll sie in letzter Zeit dem Bundeskanzler eher Kopfschmerzen bereitet haben [vgl. Politeia 170].
Lafontaine: Kristallkugeln, ich bitte dich! Viel präziser ist es, aus den Organen eines frischgeschlachteten ...
Nahles: Vergiß es! Ihr wollt doch mit den Grünen koalieren, oder?
Alle (im Chor): Ja! Nein!
Thierse (fest davon überzeugt, daß Wehner auf dem Porträt gerade eine angewiderte Grimasse gezogen hat): Also ich halte es immer mit dem Wochenhoroskop in der Super-Illu. Zuletzt hieß es, daß eine verantwortungsvolle Aufgabe auf mich zukäme ...
Lafontaine: Gut, dann fahr' in ein China-Restaurant und hole Glückskekse! Die sind multikulturell und außerdem neutral.
Scharping: Aber ...
Schröder: Kommt gar nicht in Frage. Stell dir nur mal vor, in der Öffentlichkeit würde bekannt, daß wir die Zukunft unserer Partei von Keksen aus China abhängig machen, wo doch dort die Demokratiebewegung niedergeschossen wurde.
Schily: Ich weiß nicht, was du hast. VW stört das doch auch nicht.
Simonis: Vergeßt doch endlich mal den Blick in die Zukunft! Oder habt ihr etwa nichts von Theos Finanzloch gehört? Und von den anderen Problemen?
Scharping (automatisch leiernd): Diese Regierung hat abgewirtschaftet. Sie (Schily will ihn unterbrechen, wird aber durch einen gezielten Kinnhaken zum Schweigen gebracht. Alle schauen erstaunt und schweigen) betreibt Umverteilung von unten nach oben und schafft eine Ellenbogen-
Thierse (fällt ein): ... und Zweidrittelgesellschaft, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.
Matthäus-Maier: Ah ja. Sehr interessant. Und was sollen wir dagegen tun, wenn wir an der Macht sind?
Thierse: Äh ...
Schröder: Was meinst du mit "wir"? WIR sind vielleicht irgendwann an der Macht, aber EINER von uns ist dann der Chef! Und den wollen wir heute bestimmen. Es würde die Sache abkürzen, wenn ich euch endlich auf mich einigen könnte. Schließlich bin ICH der Tony Blair von Deutschland.
Allgemeines Buhrufen. Pappteller und Papierkügelchen fliegen in Richtung Schröder.
Ein Bodyguard (leise zu Lafontaine): Soll ich ihn aufmischen, Boß?
Lafontaine (beschwichtigend): Nein, jetzt nicht. Zu viele Zeugen.
Das mit Sprüngen übersäte Bild von Herbert Wehner hängt auf einmal schief.
Rau: Wenn ich das richtig sehe, müssen wir heute einen Kanzlerkandidaten nominieren. Die Lösung liegt doch auf der Hand: Die "Reise nach Jerusalem".
Stolpe: Ist das ein biblisches Verfahren?
Rau: Aber nein, Idi-, äh, Genosse! Alle laufen um die Stühle herum, von denen es einen zuwenig gibt, und wenn die Musik endet, setzen sie sich, und wer keinen Platz bekommt, scheidet aus.
Schily: Ich bin dafür. Das würde auch ein gutes Licht auf die deutsch-israelischen Beziehungen werfen.
Simonis: Also ... das ist doch lächerlich!
Lafontaine: Nicht lächerlicher als unsere anderen Verfahren.
Allgemeines Nicken. Stühle werden geholt und eine Kassette mit dem Parteilied "Das weiche Wasser bricht den Stein". Der hinzugekommene SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering bedient einen altersschwachen Recorder.
Scharping: Es ist doch -(Die Musik bricht ab. Scharping stürzt über Simonis' Fuß, während sich gleichzeitig mehrere Ellenbogen in seinen Magen rammen) Uffffiaaaaaah!!!!!!!!
Alle anderen sitzen. Müntefering entfernt einen Stuhl und Scharping. Das Verfahren eliminiert danach Simonis, Klose, Matthäus-Maier, Nahles, Thierse, Schily, Rau, Stolpe und Beck. Am Ende sind nur noch Schröder und Lafontaine übrig. Ein Stuhl steht zwischen ihnen.
Müntefering: So. Ein letztes Mal. (Will den Recorder erneut einschalten, als mit unglaublichem Krachen das Porträt von Herbert Wehner auf dem Boden zersplittert.)
Klose: Da! Ein Omen! Wir sollen auf eine Entscheidung verzichten!
Alle nicken, erschreckt und entsetzt.
Schröder (mit erleichtertem Seitenblick auf Oskars Bodyguards): Dann bleibt uns nur noch, unser Programm für die Wahl zu besprechen. Dabei sollten wir die Vorschläge des Genossen und DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte zu Tarifverträgen und Rentenpolitik aufgreifen, die den Weg zu einer modernen Wirtschaftspolitik weisen.
Nahles: Schulte? Du meinst diesen Verräter der Arbeiterklasse, der inzwischen zum Speichellecker und Steigbügelhalter des Großkapitals degeneriert ist?
Rau: Das ist übertrieben. Der Mann ...
Simonis: ... hat doch recht!
Lafontaine: ... gehört ausgeschlossen!
Matthäus-Maier: ... ist ein Reformer!

Hier verlassen wir diese lebhafte Sitzung. Der Leser weiß nun, warum die SPD zur Bundestagswahl 1998 mit insgesamt 14 KanzlerkandidatInnen antrat. Vielleicht kann er sich auch denken, warum das Erich-Ollenhauer-Haus kurz vor der Wahl 1998 überraschend einstürzte ...

G.D./MiWi