Editorial

Die Morgengabe

Ein Märchen von kleinen Großstädten und großen Konzernen

Es war einmal eine Stadt. Eine Großstadt, aber keineswegs eine große Großstadt, eher eine kleine Großstadt. Viele Jahrzehnte ging es der kleinen Großstadt und ihren Bürgern blendend. Sie hatten viel Geld, um zum Beispiel marode Rathäuser und stadtteilzerschneidende Schnellstraßen zu bauen.
Doch dann entschloß sich das große Werk, dem die kleine Großstadt ihren Reichtum verdankte, seine Gewinne anderswo zu machen. Plötzlich stand die kleine Großstadt vor einem für ihre Verhältnisse riesigen Schuldenberg von 100 Millionen DM.
"Oh weh", klagten die 59 Weisen und E.T. Schoofs, denen die Belange der kleinen Großstadt oblagen, "woher nehmen und nicht stehlen?"
Doch an der kleinen Großstadt war außer ihrer Größe alles groß (man nannte das ihren "Standard"): Von ihrem Fußballverein über das Museum bis zum Oberbürgermeister. Dessen Größe zeigte sich darin, daß er nicht nur die Geschicke der kleinen Großstadt, sondern auch noch die eines großen Konzernes lenkte, der alles verkaufte, was der Mensch zum Leben brauchte: Strom, Gas, Wasser, Braunkohle, Benzin, Druckmaschinen, Müllentsorgung und sogar Software. Der große Oberbürgermeister war im Aufsichtsrat des großen Konzerns und sogar Vorsitzender der einflußreichsten Aktionärsvereinigung.
Nun traf es sich aber, daß auch die kleine Großstadt Müllentsorgung verkaufte. Und Software. Und Strom. Und Gas. Und Wasser. Weil die kleine Großstadt ihren Strom bei dem großen Konzern einkaufen mußte, hatte sie sich schon seit vielen, vielen Jahren mit ihm auch beim Verkauf zusammengetan. Sie teilten brüderlich - fifty-fifty - die Monopolgewinne. Sie nannten das EVL.
Als der Schuldenberg der kleinen Großstadt einfach nicht kleiner werden wollte (wie sollte er auch, wo alles andere groß war), runzelten die 59 Weisen und E.T. Schoofs die Stirn und sprachen: "Warum verkaufen wir nicht knapp die Hälfte der Müllentsorgung?" Und sie führten viele große Gründe dafür an, nur nicht die Verkleinerung des Schuldenberges.
Einige der Weisen und E.T. Schoofs aber waren mißtrauisch und fragten: "Wenn unser großer Oberbürgermeister die Geschicke des großen Konzerns lenkt, wird er dann nicht die Müllentsorgung an den großen Konzern verkaufen wollen?"
Aber alle anderen, auch die eigentlichen Gegner des großen Oberbürgermeisters, widersprachen und sagten: "Nein, nein! Jeder hat eine Chance, der die Müllentsorgung kaufen will. Der Beste bekommt den Zuschlag." Und sie fügten etwas leiser hinzu: "Das kann natürlich auch der große Konzern sein. Warum nicht?"
Dann geschahen im Reich des großen Oberbürgermeisters wunderliche Dinge. Der Oberste Müllentsorger wurde plötzlich aus der kleinen Großstadt verbannt. Sogar einige Weisen und E.T. Schoofs flüsterten, er sei ein Feind des großen Konzerns gewesen. Dann wurde ein Höfling des großen Oberbürgermeisters der Oberste Stromverkäufer der EVL. Nebenbei beschlossen der große Konzern und die kleine Großstadt, gemeinsam ein Fernsprechnetz zu betreiben. Und längst hatten sich die beiden auch bei der städtischen Softwaremanufaktur zusammengetan.
Und wieder gingen einige Bürger, ein paar Weisen und E.T. Schoofs hin und sagten: "Der große Oberbürgermeister wird bestimmt die Müllentsorgung an den großen Konzern verkaufen." Und sie warnten vor dem großen Konzern und mahnten die anderen Weisen, sie könnten gänzlich in seine Abhängigkeit und Knechtschaft geraten. Aber die große Mehrheit der Weisen, auch die eigentlichen Gegner des großen Oberbürgermeisters, beruhigten die Aufgeregten und sprachen: "Wenn der große Konzern kein gutes Angebot macht, wird er nicht berücksichtigt. Wie alle anderen auch nicht, die zu geizig sind."
Es begab sich aber zu dieser Zeit, daß die Müllentsorgung der kleinen Großstadt dringend nach Müll suchte. Denn die Müllverbrennungsanlage war wie alles in der kleinen Großstadt groß, ja nicht nur groß, sondern viel zu groß für die kleine Großstadt allein. Also verabredete der neue Oberste Müllentsorger mit einer Firma, die Müllentsorgung mit Müll zu versorgen, um ihn entsorgen zu können. Und wie es sich schickte, war die Firma doch tatsächlich eine Tochter des großen Konzerns.
Einige wenige Weisen und E.T. Schoofs murrten daraufhin: "Ist das nicht ein vom Landesfürsten verbotener Vertrag?" Und fragten bei den Beamten des Landesfürsten nach. Diese sagten: "Fürwahr ist das ein sehr bedenklicher Vertrag, den die kleine Großstadt da geschlossen hat." Und sie legten ihre Stirn in Falten und taten nichts weiter, so wie es ihre Art war.
Kurz darauf erklärte ein Höfling des großen Oberbürgermeisters, der Nachfolger des Höflings, der nun Oberster Stromverkäufer der EVL war: "Der große Oberbürgermeister wird die Müllentsorgung an die EVL verkaufen, und zwar derart, daß der große Konzern zum Schluß 49 und die kleine Großstadt 51 Hundertstel der Anteile an der Müllentsorgung hat." Und er bat die Weisen um Zustimmung.
Die meisten von den 59 Weisen, darunter auch viele der eigentlichen Gegner des großen Oberbürgermeisters, waren es zufrieden. Doch einige wenige Weisen und E.T. Schoofs erklärten grimmig frohlockend: "Haben wir es nicht immer gesagt, daß der große Oberbürgermeister weder anders kann noch anders will, als die Müllentsorgung der kleinen Großstadt an den großen Konzern zu verkaufen?" Und sie wiesen auf den Vertrag mit der Tochterfirma des großen Konzerns hin.
Doch der erwähnte Höfling widersprach und sagte: "Dieser Vertrag hatte mit der Entscheidung nichts zu tun." Einige Bürger aber waren verwirrt, als der Höfling weiterhin erklärte, der Kaufpreis müsse erst noch ermittelt werden. Und sie fragten untereinander: "Wie kann der große Konzern den Zuschlag bekommen haben, wenn er noch gar keinen Preis genannt hat?" Und sie wunderten sich sehr.
Aber es gab auch einige Weisen und Bürger (vielleicht auch E.T. Schoofs), die argwöhnisch und mißgünstig waren. Und sie erklärten den Minnesängern: "Folgendermaßen wird die Geschichte weitergehen, höret unseren Worten!
Der große Oberbürgermeister ist groß in der kleinen Großstadt. Doch der geringste unter den Führern des großen Konzerns hat mehr zu sagen als er. Und besser entlohnt wird er sowieso.
Also wird der große Oberbürgermeister sein Reich bald verlassen, um ein Anführer im großen Konzern zu werden. Schon viele große Oberbürgermeister und Oberstadtdirektoren kleiner und großer Städte und Landkreise sind diesen Weg gegangen.
Und er hat ja auch seine Morgengabe beim großen Konzern längst hinterlegt, nämlich die Softwaremanufaktur, das Fernsprechnetz und jetzt auch die Müllentsorgung. Ja geradezu undankbar wäre es von den Führern des großen Konzerns, den großen Oberbürgermeister der kleinen Großstadt nicht zu einem der ihren zu machen!
Wetten wir also, daß in einer nicht allzu fernen Zeit einer der Weisen, vielleicht der zuletzt so schmählich betrogene Hans oder der stattliche Paul, oder einer der Höflinge großer Oberbürgermeister wird?"
Doch die Minnesänger waren angewidert ob solcher Bosheit und sprachen: "Der große Oberbürgermeister ist ein gerechter Mann. Er wird geliebt von seinen Untertanen und wird sie nicht des schnöden Mammons wegen verlassen."
Und sangen weiter das Lob auf den großen Oberbürgermeister der kleinen Großstadt.

G.D.