Politik

Zur Pflegesituation in Nordrhein-Westfalen

Land zieht sich aus der Verantwortung zurück


Wollte man im alten Griechenland Auskunft über die Zukunft, so befragte man das Orakel von Delphi. Dessen oft fragwürdige Antworten bestimmten dann das weitere Tun.
Wer heute z.B. Aussagen über die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft macht, muss kein Orakel befragen. Dass Deutschland in den kommenden Jahrzehnten einen beispiellosen demografischen Wandel erleben wird, ist durch Fakten hinreichend belegt: bereits seit 1973 liegt die Zahl der Geburten unter der Zahl der Sterbefälle. Gleichzeitig hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen Jahren enorm verlängert: wurden 1950 in Westdeutschland Männer durchschnittlich 64,6 Jahre und Frauen 68,5 Jahre alt, so ist die Lebenserwartung inzwischen auf 74,4 Jahre bei Männern und auf 80,6 Jahre bei Frauen angestiegen. Schon heute sind etwa 350.000 Deutsche älter als 90 Jahre. 2020 werden es etwa eine Million sein.
Die wachsende Zahl der Hochbetagten rückt ein Thema immer drängender in den Mittelpunkt der Politik: das Thema Pflege. Was das für Nordrhein-Westfalen bedeutet, auch dazu braucht man keine Orakelbefragung: die Fakten liegen vor. Anfang Februar 2003 hat das Statistische Landesamt bekannt gegeben, dass rund 460.000 Menschen in NRW pflegebedürftig sind, also Leistungen aus dem Pflegeversicherungsgesetz beziehen.
Die Landesregierung musste bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres "ihre" Zahl der Pflegebedürftigen korrigieren. Sie war bislang davon ausgegangen, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in NRW um etwa 100.000 geringer sein würde - damit ist der derzeitige und künftige Pflegebedarf falsch eingeschätzt, sind Schwerpunkte falsch gesetzt.
Das ist in den vergangenen Jahren im Fachausschuss des Landtags immer wieder deutlich geworden. Die Kontroversen konzentrieren sich auf drei Bereiche:
  • Das Pflegeversicherungsgesetz will ermöglichen, dass Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, möglichst lange zu Hause bleiben können, ambulant vor stationär ist die Zielsetzung. Dazu sind in den vergangenen Jahren, mit Unterstützung des Landes, entsprechende ambulante Dienste aufgebaut worden, die eine unverzichtbare Hilfe für die pflegenden Angehörigen sind. Inzwischen hat sich das Land immer weiter und bald vollständig aus der Finanzierung dieser Dienste zurückgezogen und will diese Aufgabe allein bei den Kommunen abladen - mit fatalen Folgen: die Kommunen können die anfallenden Mittel nicht auffangen, viele Dienste müssen schließen und diese Entwicklung geht weiter.

  • Die Altenpflegeausbildung ist ein weiterer Punkt der Kontroverse. Die CDU-Landtagsfraktion sieht die Notwendigkeit zu verstärkter Ausbildungsanstrengung. Dagegen hat die Landesregierung die Zahl der Ausbildungsplätze kontinuierlich verringert - und das in einer Zeit, wo junge Menschen oft vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen. Wir brauchen dringend mehr junge Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden und ausgebildet werden können. Sonst rutschen wir in einen Pflegenotstand.

  • Auch im Bereich der stationären Pflegeheime besteht dringendster politischer Handlungsbedarf. Bis Mitte der 90er Jahre hat sich das Land mit 250 Millionen DM jährlich am Bau von Pflegeheimen beteiligt, 50% der Bausumme wurden als zinsloses Darlehen gewährt. Mit der Einführung des Landespflegegesetzes 1996 hat sich das Land stufenweise aus der Finanzierung zurückgezogen und so dazu beigetragen, dass wir jetzt einen Investitionsstau im Land von 4,8 Milliarden Euro haben. Dieses Geld fehlt für Umbau, Sanierung und für dringend benötigte neue Plätze.

In dieser Situation legt die Landesregierung nun den Entwurf eines neuen Landespflegegesetzes vor. Darin gibt sie klar zu erkennen, dass sie nicht mehr imstande ist, mit eigenen Mitteln zu einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Pflegeeinrichtungen beizutragen. Alle Lasten werden auf die Pflegebedürftigen und die Kommunen verschoben.
Investitionskosten sollen allein über den Kapitalmarkt finanziert werden, und das bedeutet erheblich steigende Zinsen. Diese Mehrbelastung, die im Monat bis zu 300 Euro betragen kann, tragen in erster Linie die Pflegebedürftigen. Um diese Kosten aufzubringen, soll in Zukunft nicht nur das Einkommen, sondern auch das Vermögen der Pflegebedürftigen angerechnet werden, und zwar bis zu einem Schonbetrag von 10.000 Euro. Wo Einkommen nicht ausreicht und Vermögen aufgezehrt ist, sind - wieder einmal - die Kommunen in der Pflicht, über Sozialhilfe und/oder Pflegewohngeld die Kosten zu übernehmen. Entgegen der Darstellung der Landesregierung befürchten die Kommunen hier eine neue Kostenlawine.

Kostenlawine für Kommunen

Diese Neuregelung konterkariert die ursprüngliche Intention der Pflegeversicherung. Sie sollte gerade verhindern, dass Pflegebedürftigkeit über kurz oder lang in die Abhängigkeit von Sozialhilfe führt. Die Kommunen können die vom Land gerissenen Lücken nicht auffangen. Aus diesen Gründen lehnt die CDU-Fraktion den Gesetzentwurf der Landesregierung entschieden ab. Schon jetzt ist absehbar, dass die Auseinandersetzung heftig wird und nicht nur im Fachausschuss stattfindet. So kommentierte die Rheinische Post am 20.02.2003: "Noch ist nichts entschieden, aber das unwürdige Verhalten der Landesregierung zeigt, dass gerade die älteren Mitbürger, zumal die wehrlosen, hier zu Lande eine viel stärkere Lobby brauchen".
Der Streit lohnt; denn Pflegebedürftige und Pflegende brauchen auch in Zukunft verlässliche Unterstützung - und der Rückzug der Landesregierung aus der Verantwortung muss gestoppt werden.