Satire

Jeden Morgen Schulmilch

Grundschule 2002:
Ein Frontbericht

Deutschland. Juli 2002. In einer großen deutschen Millionenstadt in Nordrhein-Westfalen im Stadtteil Kalk versammelt sich an diesem besonderen Morgen das Lehrerkollegium einer Grundschule zur Krisensitzung, auch Kollegiumsbesprechung genannt. Die Kollegiumsmitglieder sind hohlwangig und ausgezehrt. Nur der Direktor macht einen relativ gelösten Eindruck.

Direktor: Meine Damen, der große Tag ist da. Als einzige Grundschule bekommen wir heute trotz Haushaltssperre neues Personal.

Fräulein Müller (Mittfünfzigerin, Adlernase, stechende Augen, von den deutschen Schülern nur "Frau Feldwebel" genannt): Aha! Wieder so ein armes Schwein frisch von der Uni. (sadistisches Grinsen) Die letzte hat immerhin zwei Wochen durchgehalten, bevor die 4a mit ihr fertig war. Arbeitet sie nicht jetzt bei einem Bestattungsunternehmen?

Frau Seibold-Hoppenstein: Ja, sie schätzt vor allem die friedliche Kundschaft. Aber das lag auch daran, liebe Kollegin, daß sie gegen die Schüler gearbeitet hat. Anstatt den jungen Leuten Verständnis entgegenzubringen, hat sie - wie Sie! - den Schülern persönlichkeitseinengende Grenzen gesetzt und versucht, ihre Individualität einzuschränken. (Streicht sich gedankenverloren über eine alte vernarbte Stichverletzung) Kein Wunder, daß das zu Konflikten führte.

Frau Rigold (bringt das Kunststück fertig, gleichzeitig eine Beruhigungspille zu schlucken und den Stichschutz in ihre schutzsichere Unterziehweste einzuschieben): Ihr habt gut reden! Ich muß jetzt in die 3a zur Albaner-Mafia. 13 Wörter, 55 Fehler, und die Drohung, mein Auto abzufackeln, wenn sie nicht mindestens eine Zwei kriegen.

Rektor: Die erpressen eine Zwei von Ihnen? Das ist ja unverschämt!

Frau Rigold: Finde ich nicht. Eigentlich wollten sie eine Eins, aber ich konnte sie runterhandeln.

Frau Müller (zum Kollegium): Sehen Sie nun, wozu diese Larifari-Erziehung führt? Die deutsche Jugend braucht wieder Zucht und Ordnung! In meinen Klassen haben die Schüler die Narben und nicht ich!

Frau Seibold-Hoppenstein: Faschistin!

Frau Kleinfeld (58, ein Jahr vor der Frühpensionierung): Was für Deutsche? Hab ich schon seit Jahren nicht mehr in der Klasse gesehen!

Frau Rigold (schreit): Dieser Streit hängt mir zum Halse heraus! Verdammt, seit 18 Jahren höre ich den gleichen Mist von Euch!

Rektor: Äääh - (seine ganze Autorit¨t in den Ring werfend, räuspernd) 18 ist vielleicht ein gutes Stichw- äääh, guter Anhaltspunkt. Um noch mal auf unsere Verstärkung zuräckzukommen, die uns überraschend zugeteilt wurde. Es ist keine Kollegin. Es ist ein Kollege. (Verblüffte Stille.) Er war lange nicht im Geschäft und hat beschlossen, in seinen alten Beruf zurückzukehren.

Frau Müller (mißtrauisch): Ist er verrückt?

Frau Rigold: Ist er qualifiziert?

Frau Seibold-Hoppenstein: Ist er liberal?

Rektor: Er hatte in letzter Zeit viel Pech, und ich möchte Sie deswegen bitten, ihn in der Anfangsphase nicht allzu hart anzufassen.

Frau Müller: Wir können keine weiteren Weicheier hier gebrauchen (quittiert kühl wütenden Blick von Frau Seibold-Hoppenstein). Wenn er schon Angst vor uns hat, wie soll er dann mit diesem Schülergesocks klarkommen?

Frau Rigold: Geben Sie ihm die 4c. Die Russen haben gerade erfolgreich einen kleinen Waffendeal abgeschlossen und sind daher relativ friedlich.

Rektor: Der Mann war immerhin Soldat - nein, er ist kein Faschist, Frau Seibold-Hoppenstein, auch wenn einige das behaupten.

Frau Rigold: Versteht er etwas von Montessori-Erziehung?

Rektor: Leider nicht.

Frau Müller: Gott sei dank!

Frau Kleinfeld (steht interessiert am Fenster): Kollegen, schaut mal: Unsere süßen Kleinen da draußen versuchen einen Ü-Wagen umzukippen! Und überall ist Presse! Da! Ist das etwa der neue Kollege? Sieht ja gar nicht mehr so jung aus. Irgendwie aber kommt er mir bekannt vor ...

Rektor: Ich glaube, meine Damen, die Zeit ist gekommen. (Tür fliegt auf) Darf ich vorstellen: Jürgen W. Möllemann.

Totenstille. Nur von draußen hört man das Knistern des brennenden Ü-Wagens und empörte Rufe von Kameraleuten, die sich gegen die Schüler wehren.

Frau Müller: Sie kommen zu Fuß? Nicht mit dem Fallschirm?

Möllemann (sarkastisch): Ha, ha, ha. Meine Damen, ich habe es mir auch nicht ausgesucht, hier heute anzufangen. Aber nach dem wiederholten Ende meiner politischen Karriere hat man mir von staatlicher Seite nichts besseres angeboten. Ich brauche einen Platz, an dem ich mich in aller Ruhe wieder sammeln kann.

Frau Kleinfeld (quietscht hysterisch): Ruhe, sagt er! In aller Ruhe will er sich sammeln!

Frau Seibold-Hoppenstein (stöhnt): Jetzt werden wir heute abend bundesweit mit dem deutschen Jörg Haider zur besten Sendezeit in jeder Nachrichtensendung zu sehen sein.

Frau Müller (nach einem Blick aus dem Fenster): Beruhigen Sie sich. Die 4a hat ganze Arbeit geleistet. Nichts mehr da, womit man filmen könnte. Alles geraubt. Ihre Klasse übrigens, Frau Kollegin. (hat eine Idee) Vielleicht kann unser neuer Kollege sich der 4a annehmen!

Rektor (bemerkt aufkeimende Feindseligkeit): Herr Kollege, ich führe Sie am besten gleich mal durch die Schule, damit Sie sich ein Bild machen können.

Möllemann: Ach, ich glaube eigentlich nicht, daß sich Schüler in den letzten Jahrzehnten groß verändert haben -

Hausmeister (kommt mit einer großen Kiste herein)

Möllemann: Ach, das ist doch so wie früher! Der Hausmeister bringt die Schulmilch!

Frau Müller (ist bis zum Rest der Satire aufgrund eines Lachkrampfs nicht mehr ansprechbar)

Hausmeister: Das ist unsere Bonbonkiste, wie wir sie nennen. Das beschlagnahmte Waffenarsenal der letzten Woche. (Kippt das wilde Sammelsurium aus Schlagringen, Klappmessern, Gaspistolen und Totschlägern in eine bereitstehende große Stahlkassette mit Vorhängeschloß) Der Kampfmittelräumdienst kommt heute nachmittag und holt es ab. Wie jede Woche. Schulmilch! (Geht kopfschüttelnd ab) Kollegium verläßt erheitert, was selten vorkommt, das Lehrerzimmer und begibt sich ins alltägliche Gefecht.
Der Rektor schlendert mit Jürgen W. Möllemann durch die Gänge seiner neuen Arbeitsstätte.


Rektor: - und auf der rechten Seite sehen Sie den Trakt 4, der gerade PCB-saniert wird. Dauert schon ein paar Jährchen. Sie wissen: die Haushaltslage und diese verdammten Polit- oh, entschuldigen Sie ...

Möllemann: Schon gut. Ich bin ja kein Politiker. Ich bin Jürgen W. Möllemann.

Rektor: Hinter dieser Tür ist die 2b von Frau Kleinfeld - (grauenhaftes Kreischen hinter der Tür) - Verdammt!

In Erwartung eines Massakers stürmen beide Männer zu allem bereit in die Klasse.

Frau Kleinfeld (ekstatisch-hysterisch): Er hat seinen ersten fehlerfreien deutschen Satz gesprochen! Nach erst zwei Jahren Unterricht!

Möllemann: Glückwunsch, Frau Kollegin! Welcher Nationalität gehört er an?

Frau Kleinfeld: Das ist Udo. Rheinländer. Fünfte Generation.

Möllemann (hält sich an seinem Lächeln fest wie ein Ertrinkender)

Rektor: Eine an sich nette Klasse. Ein bißchen lebhaft. - Dort nebenan ist die Klasse von Frau Müller.

Möllemann: Man hört nichts. Respekt.

Rektor: Das ist auch meine Meinung. Aber die Methoden, die sie verwendet, dürfen nie dem Kultusministerium bekannt werden. - Hinter dieser Tür gibt gerade Frau Seibold-Hoppenstein der 1b Musikunterricht.

Möllemann (öffnet vorsichtig die Tür, ein unglaublicher Lärm schlägt ihm entgegen, im Hintergrund sind mühsam einige Gitarrenzupfer zu vernehmen): Niemand scheint ihr zuzuhören.

Rektor: Sie steht auf dem Standpunkt, daß jede Art von Disziplin oder gar Zwang die Psyche der Schüler deformiert. - Herr Kollege Möllemann, Sie wissen ja, daß wir fest auf Sie bauen. Wir kommen jetzt zur Klasse 4a.

Möllemann: Sind das die Jungs, die den Presseleuten eingeheizt haben?

Rektor: Ja. Diese Klasse werden Sie übernehmen. Ihre Vorgängerin, das sage ich ganz offen, ist an dieser Klasse gescheitert. Und man muß zugeben, daß es dort den einen oder anderen Problemfall gibt. Aber Sie dürften ja schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden sein.

Möllemann: Worauf Sie Gift nehmen können.

Rektor (zuckt zusammen): Entschuldigen Sie ... aber solche Redensarten schätzen wir hier nicht sehr, wissen Sie. Man hat so seine Erfahrungen ...

***

18 Monate später. Jürgen W. Möllemann schreibt einen Brief.

"Lieber Guido!
Mit derselben Post gehen Briefe ab an den Zentralrat der Juden in Deutschland, an Paul Spiegel und an Michel Friedman. Ich entschuldige mich darin in aller Form für alles, was vor 18 Monaten vorgefallen ist. Vor zwei Tagen habe ich die Mitgliedschaft in der deutsch-arabischen Gesellschaft gekündigt. Sogar die Telefonnummer von Jamal Karsli habe ich aus meinem Handy gelöscht. Ich bin aus meinem Fallschirmspringerclub ausgetreten und habe meine Fallschirme dem Haus der Geschichte in Bonn überlassen.

Guido, du mußt mir einfach glauben: Ich habe an mir gearbeitet. Bitte, bitte, gib mir eine Chance! Ich brauche irgendein politisches Amt, egal welches.

Denn wenn Du nicht etwas für mich tust, hast Du irgendwann Blut an den Fingern. Dieser Job hier bringt mich um. Das meine ich wörtlich.
Ich lege mein Schicksal in Deine Hand. Denk an die schöne gemeinsame Zeit und die vielen hübschen Intrigen, die wir ausgeheckt haben.

Dein Jürgen W. Möllemann."

G.D./M.P./MiWi