Politik

Erfurt

Einfache Rezepte sind die besten - oder nicht?

Schon Minuten nach der Wahnsinnstat in einem Gymnasium in Erfurt war klar, was insbesondere in Wahlkampfzeiten kommen musste: Die Erklärungen so genannter Experten und vieler bekannter und weniger bekannter Politiker, wie es zu diesem Massaker in einer deutschen Schule kommen konnte, wo man so etwas nur aus dem Fernsehen oder den USA (oder beidem) kannte.

"Counterstrike" ist schuld

Schnell waren die Übeltäter gefunden: Die Computerspielindustrie war?s, denn der Täter war ein Spieler des beliebten so genannten Ego-Shooters "Counterstrike", welcher allein in Deutschland von ca. 500.000 Menschen gespielt wird. Hier habe der spätere Amokläufer seine Scheu vor dem Töten verloren.

Das Fernsehen war?s

Andere suchten die Gründe für das Töten lieber in der Videosammlung von Robert S., in der auch so erlesene Titel wie "Brain Death" und anderer Schmuddelkram aus der Horrorecke zu finden war. Wer so viel Gewalt täglich sähe, der muss schließlich auf dumme Gedanken kommen.

Schützen sind potentielle Mörder

Haarig wurde es aber erst richtig, als bekannt wurde, dass der "Schütze" begeisterter Sportschütze war und sich die Waffen weder auf dem Schwarzmarkt, noch aus Papis aufgebrochenem Waffenschrank besorgen musste, sondern diese legal besitzen durfte.

Schnelle Lösung

Unter diesen Voraussetzungen war klar, was nun kommen musste: Die Verschärfung bestehender Gesetze, damit so ein tragisches Verbrechen, wie der Amoklauf von Erfurt nicht mehr passieren konnte. So sollte das o.a. Spiel schnell verboten werden, die Fernsehsender sollten auf Gewaltfilme möglichst verzichten und das Waffengesetz, welches ohnehin zu den strengsten weltweit zählt, weiter verschärft werden.

Leider werden bei diesen schnellen Lösungen meiner Meinung nach viele andere Faktoren übersehen, weil medienwirksame Gesetzesinitiativen gerade in Wahlkampfzeiten gut etwas her machen und ein rasches und entschlossenes Handeln der Politik vorgaukeln - mal ganz davon abgesehen, dass diese Lösungen in Zeiten knapper Kassen quasi zum Nulltarif zu bekommen sind.
Doch wahrscheinlich greifen diese vermeintlichen "Lösungen" zu kurz, denn sonst müssten bei der weiten Verbreitung des o.g. Spiels, der Allgegenwärtigkeit von Gewalt im Fernsehen und einigen Millionen legalen Waffen in Deutschland Amokläufe an der Tagesordnung sein.

Perspektivlosigkeit

Muss es denn sein, dass ein Schüler, der in Erfurt durch das Abitur fällt bzw. nicht zugelassen wird nur einen Hauptschulabschluss erhält und damit, was die Berufsaussichten gerade im Osten der Republik angeht, vor dem Nichts steht? Muss solch ein Schüler allein und völlig auf sich allein gestellt, damit fertig werden?
Wohlgemerkt, dies ist ein Erklärungsversuch, keine Rechtfertigung möglicher Folgen.

Unabhängig von Erfurt befindet sich die Betreuung der Jugend dieser Republik immer weiter auf dem absteigenden Ast. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und den damit hoch belasteten Sozialsystemen brechen immer mehr Familien auseinander, so dass immer mehr Kinder und Jugendliche auf sich allein gestellt sind. Die Folgen von sich selbst überlassenen oder schlichtweg nicht mehr erzogenen Kindern sieht man vielerorts schon bei der Einschulung. Da werden kleine Asoziale den Grundschullehrern zur Vormittagsaufsicht "überstellt", so dass die überforderten Pädagogen vielen Kleinen statt Lesen und Schreiben erst einmal die Grundzüge sozialen Zusammenlebens beibringen müssen. Was eigentlich Aufgabe der Eltern sein müsste, muss Jahre zu spät von Lehrern nachgeholt werden, die dafür gar nicht ausgebildet sind.
Doch die Kassen sind leer, statt mehr Psychologen und Lehrern gibt es dort immer weniger. Sozialarbeiter, Psychologen und mehr Lehrer sind gern gesehen - falls man sie denn bezahlen kann. An die geforderten Ganztagesschulen ist nicht zu denken, bei dieser personellen und finanziellen Ausstattung.

Kein Programm am Nachmittag

Doch das Trauerspiel setzt sich auch am Nachmittag fort: Da gerade der Jugendbereich durch den Rotstift immer weiter zusammengestrichen wird, bricht das staatliche oder staatlich geförderte System aus Sportvereinen, Bibliotheken, Jugendveranstaltungen, aller Art usw. immer mehr zusammen.
Die Folgen sind klar: Der Zusammenbruch vieler Familien und damit ihr Versagen als erste Stufe der Sozialisation durch die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten, das Kaputtsparen der Jugendarbeit, die allgegenwärtige Gewalt in den Medien und natürlich wie im Fall Erfurt der Zugang zu großkalibrigen Waffen, werden auch weiterhin zu spektakulären Vorfällen führen. Schon heute sieht man gerade im Osten, dass beispielsweise rechtsradikale Gruppen vielerorts nur deswegen so großen Zulauf haben, weil die "Glatzen" das einzige sind, was der triste Nachmittagsalltag an Abwechslung zu bieten hat. Andere Angebote - vor allen Dingen vom Staat - gibt es nicht.

Fraglich ist also, ob so eine Tat nur durch das Verbot eines Spiels, die Verstümmelung von im TV ausgestrahlten Spielfilmen und die Heraufsetzung des Mindestalters für den legalen Waffenbesitz in Zukunft verhindert werden kann. Wohl kaum. Also bitte keine einfachen und schnellen "Billiglösungen".

MiWi