Politik

Der Mythos der amerikanischen Dienstleistungsgesellschaft

Ist der Kunde in den USA wirklich König?

Es gibt das weit verbreitete Bild von der modellhaften Dienstleistungsgesellschaft in Amerika. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus: Wer in den USA Service erwartet, wird oft bitter enttäuscht.

Erschreckendes Beispiel

Es ist 20 Uhr, als in Washington plötzlich das Licht ausgeht. Stromausfall. Die Italinierin Giulia Espositio wartet geduldig, bis das Licht wieder angeht - in der sicheren Annahme, da ß es sich dabei nur um Minuten handeln kann. Was in Italien funktioniert, kann doch im Dienstleistungsparadies USA kein Problem sein, denkt sie sich. Weit gefehlt! Ganze zwei Tage lang bleiben mehrere tausend Wohnungen, Geschäfte und Restaurants im Zentrum der amerikanischen Hauptstadt von der Stromversorgung abgeschnitten. Der Grund: Wieder einmal ist eine der maroden unterirdischen Gasleitungen explodiert und hat das Stromnetz eines ganzen Stadtviertels lahm gelegt. Bei 35 Grad Außentemperatur verderben in den Supermärkten und heimischen Tiefkühltruhen die Lebensmittel, und nachts flackert hinter den Fenstern des Viertels Kerzenlicht.

Service mit Tücken

Der Mythos von den umfangreichen, das Leben bereichernden Dienstleistungen wird durch wenige Dienste genährt, die in der Tat vornehmlich in den USA zu finden sind und es daher zu Weltruhm gebracht haben. Ein immer wieder genanntes Beispiel ist der Supermarktgehilfe, der den Kunden an der Kasse Milchflaschen, Toastbrote und Thunfischdosen in Tüten einpackt, ebenso wie die großzügige Umtauschpolitik, die es Käufern ermöglicht, zum Beispiel getragene Kleidung noch nach Wochen zurückzubringen.

Doch selbst diese Offerten haben ihre Tücken. Als der Deutsche Daniel Jahn beispielsweise im Bundesstaat Maryland seinen Drucker bei der Büromaterialkette Staples zurückgeben wollte, weil er nicht funktionierte, weigerte sich die Verkäuferin standhaft. Er wurde aufgefordert sich an den Hersteller zu wenden. Daraufhin hängte sich Jahn zu Hause ans Telefon, um den Hersteller zu erreichen. Ganze fünf Anrufe bei der Telefonhotline des Druckerproduzenten waren nötig, bis Jahn herausfand, daß das Problem offenbar an den Einstellungen seines Computers und nicht am neuen Drucker lag.

Technisierung

Wer in Amerika jemals in der Warteschleife eines automatisierten Telefonsystems hing, empfindet tiefes Mitgefühl mit dem Deutschen. Telefonhotlines stehen ganz oben auf der Liste der Kundenfolter in den USA. Sie sind nach dem Muster von Labyrinthen strukturiert, in denen der Anrufer auf die Instruktion von Tonbandstimmen angewiesen ist. Wer es schafft, sich gleich beim ersten Versuch bis zu einer lebenden Person durchzuklicken, kann sich glücklich schätzen. Doch auch er braucht dafür mindestens mehrere Minuten, weil er gezwungen ist, sämtliche Werbeansagen anzuhören, bevor ihm die nächste Tastenoption für seine Verbindung genannt wird. Ertönt dann die Ansage "Der nächste Servicemitarbeiter wird Sie bald bedienen", hat man im Schnitt noch 20 Minuten Gelegenheit, ein bisschen Musik sowie die Aufforderung "Bitte legen Sie nicht auf, Ihr Anruf ist uns sehr wichtig" zu hören, bevor der leibhaftige Servicemitarbeiter sich meldet.

Die Voraussetzung für solche Abenteuer ist allerdings eine funktionierende Telefonleitung. Wer es in Washington einmal geschafft hat, vom regionalen Netzmonopolisten Verizon Leitungen in der Wohnung installiert zu bekommen, der zieht so schnell nicht mehr um. Denn bis Verizon seine Arbeit getan hat, können gut und gerne mehrere Monate vergehen. Und wer zur Telefon- auch noch eine Leitung fürs Fax und womöglich eine fürs Internet haben will, bringt die Techniker ganz durcheinander.

Kundenfrust

Auch den Amerikanern geht diese Art von stümperhafter Dienstleistungsmoral langsam auf den Geist. Der "Customer Satisfaction Index" (ACSI), den die Universität Michigan berechnet, sank rapide ab, seitdem er 1994 zum ersten Mal erhoben wurde. Er dümpelt nach einer leichten Erholung seit 1999 auf niedrigem Niveau. Zwar arbeiten in den USA 70 % der Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich - gegenüber 50 % in Deutschland. Das heißt aber nicht, daß mehr Leistungen angeboten werden. Im Gegenteil: In den USA existieren viele Dienstleistungen, deren Sinn sich nicht gleich erschließt. Am internationalen Flughafen von Washington wird beispielsweise ein Flughafenmitarbeiter dafür eingesetzt, um an der Rolltreppe den eben gelandeten Passagieren entgegen zu schreiten, welchen Weg sie einschlagen sollen: "Anschlußflüge nach links, Ankunft nach rechts." Direkt über ihm hängt ein Schild, auf dem auch Halbblinde deutlich die selbe Information lesen können.

Überflüssiges Personal

Ähnlich viel Personal tummelt sich auch in amerikanischen Restaurants. Dort gibt es nicht nur Köche und Kellner, sondern auch Platzanweiser, Wasser-Einschenker und Tellerabräumer. Die Autorität des Platzanweisers ist nicht zu überbieten. Dem Gast ist es untersagt, sich selbst einen Tisch auszusuchen - er ist vielmehr auf das Wohlwollen des Platzanweisers angewiesen. Wer zum Beispiel einen Tisch für fünf Personen haben will, aber nur zu dritt an der Pforte des Restaurants erscheint, muß so lange warten, bis die restlichen zwei Personen ebenfalls eingetroffen sind - sonst würden sich womöglich drei Leute einen größeren Tisch erschleichen, als ihnen zusteht. Ist die Fünfergruppe dann versammelt, kann es gut sein, daß es in dem Speiselokal in der Zwischenzeit so voll geworden ist, daß kein passender Tisch mehr frei ist. Wer daraufhin die Lokalität wechseln will, sollte genau wissen, wie er dorthin gelangt - oder besser noch einen Stadtplan mit sich führen: Taxifahrer sind in Amerika nur selten mit ausreichenden Ortskenntnissen gesegnet. Das hindert sie aber nicht daran, ihre Irrwege zu berechnen. Hochsaison herrscht für Taxifahrer im Winter: Bei Schnee berechnen sie den doppelten Fahrpreis. Schließlich müssen sie ja vorsichtiger fahren, und das kostet Zeit. Und Zeit ist Geld. Wie sonst sollte man es in den USA auch vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen? Oder stimmt dieser Mythos etwa auch nicht?

Servicewüste Deutschland

Deutschland wird oft als Dienstleistungswüste im Vergleich zu den USA bezeichnet. Angesichts der oftmals nur scheinbar vorhandenen Dienstleistungsgesellschaft Amerika muß dieses Bild korrigiert werden.