Politik

Mut und Weitblick

Vor 20 Jahren wurde ein großer Politiker ermordet

Vor ziemlich genau 20 Jahren, am 6. Oktober 1981, wurde der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat bei einer Militärparade von einem fanatischen Mitglied der Muslimbruderschaft erschossen.
Angesichts der jüngsten Ereignisse auf der Welt lohnt es sich, an den wahrscheinlich fähigsten arabischen Politiker der Nachkriegszeit zu erinnern. Und man erkennt etwas wehmütig, daß unter den derzeitigen arabischen Führern niemand vom Format eines Sadat erkennbar ist.
Sadat übernahm 1970 als Nachfolger von Präsident Nasser ein schweres Erbe. Nasser war zwar ein phantastischer Redner und Demagoge, der voll auf die Karte des arabischen Nationalismus setzte (gemäß dem damaligen Zeitgeist mit ein paar Prisen Sozialismus angereichert), aber im Grunde steckte hinter seinen großen Worten wenig. Nasser bändelte mit der Sowjetunion an, ließ sich von ihr militärisch aufrüsten und baute gegen Israel eine enorme Drohkulisse auf.

Sechstagekrieg

Aber es war eben nur eine Kulisse. Im Sechstagekrieg von 1967 überrannte Israel in einem Präventivkrieg die arabischen Armeen und eroberte die Sinai-Halbinsel, die syrischen Golan-Höhen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Es war eine militärische Glanzleistung. Flächenmäßig wurde ein Gebiet erobert, das fast dreimal so groß war wie der Staat Israel selbst.
Nassers Ansehen war danach auf den Nullpunkt gesunken. Die Israelis standen am Suezkanal und machten keine Anstalten, sich wie 1956 (dem letzten Krieg gegen Ägypten) wieder zurückzuziehen. Denn Israel wußte, daß es trotz seiner leistungsstarken Armee viel verletzlicher war als seine flächen- und bevölkerungsmäßig weitaus größeren Nachbarn.
Als Nasser 1970 starb, steckte Ägypten in einer außenpolitischen Sackgasse. Die Sinai-Halbinsel war verloren und sollte wiedererlangt werden. Aber wie? Israel angreifen? Diesen militärischen Giganten?
Der neue Präsident, Anwar as-Sadat, schien das genaue Gegenteil von Nasser zu sein: Ein eher profilloser Typ ohne den rhetorischen Schwung seines Vorgängers.
Um so mehr staunte die Welt, als dieser Sadat mit freundlichem Lächeln und unter Bekundung der tiefsten Verbundenheit zwischen beiden Völkern die von Nasser geholten sowjetischen Militärberater 1972 aus dem Land warf.

Eine mittlere Sensation

Das war eine mittlere politische Sensation. Ägypten lockerte seine Bindungen an die UdSSR. Aber warum? Den Hauptgrund hat man 1972 nicht erkannt: Sadat plante einen Angriff auf Israel. Und dafür konnte er die Russen nicht brauchen, die vielleicht Vorbehalte machen oder seinen kühnen Plan ausplaudern würden.
Denn Sadats Idee war ein Überfall an Israels höchstem Feiertag Yom Kippur, dem Versöhnungstag. Die ägyptische Armee war seit 1967 wieder aufgebaut worden und war erstmals halbwegs konkurrenzfähig. So sollten moderne Boden-Luft-Raketen die gefürchtete israelische Luftwaffe ausschalten.
Am 6. Oktober 1973 überquerte also die ägyptische Armee den Suezkanal. Gleichzeitig griffen syrische Truppen die Golan-Höhen an.
Die Wirkung auf das total überraschte Israel war einschneidend. Niemand hatte den Ägyptern ein solches Husarenstück zugetraut. In den vergangenen sechs Jahren hatte sich ein gewisser militärischer Überlegenheitsdünkel breitgemacht. Sorglosigkeit und Schlamperei bei der Aufklärung waren die Folge.
Sadats Kalkulation ging voll auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er nicht mit einem Sieg gerechnet. Und Ägypten verlor in der Tat auch diesen Krieg - militärisch, denn die Truppen wurden hinter den Kanal zurückgedrängt und teilweise eingeschlossen. Das entscheidende Manöver leitete auf israelischer Seite übrigens ein General namens Ariel Sharon, der heute Ministerpräsident ist.
Aber Sadat war trotzdem am Ziel. Denn Israel war seine Verwundbarkeit dramatisch vor Augen geführt worden. Nur durch eine US-Luftbrücke konnte die Armee ausreichend mit Waffen versorgt werden. Die Luftwaffe verlor viele Flieger. Die Zahl der Toten überstieg die der vorherigen Kriege bei weitem. Psychologisch und politisch hatte Sadat den Krieg gewonnen.

Henry muß es richten

Jetzt zahlte sich auch Sadats vorsichtiger Schwenk Richtung USA aus. Dem amerikanischen Außenminister Henry Kissinger gelang es, mit den störrischen Israelis (die wenig Lust hatten, ihr Faustpfand, die von Sharon eingekesselte 3. ägyptische Armee, freizugeben), den noch störrischeren Syrern, die im Gegensatz zu Ägypten nicht einmal symbolische Erfolge vorzuweisen hatten, und eben Sadat ein Truppenentflechtungsabkommen auszuhandeln.
Schon damals geriet Sadat in die (verbale) Schußlinie radikaler Araber wie etwa Jassir Arafat und Gaddafi. Denn der ägyptische Präsident verhandelte äußerst geschickt und vermied harte Forderungen, die er ohnehin nicht durchsetzen konnte. Sein Entgegenkommen verunsicherte die israelische Führung unter Ministerpräsidentin Golda Meir (ebenfalls eine große Persönlichkeit in dieser Zeit) mehr als die harte Rhetorik Nassers: Konnte man Sadat trauen? Das war die Frage. Eine falsche Antwort konnte Israels Ende oder wieder Tausende von Toten bedeuten.
Die Verhandlungen zum Truppenentflechtungsabkommen 1973/74, vermittelt vom US-Außenminister Henry Kissinger, sind ein schönes Beispiel für die Tatsache, daß nur die USA, wenn überhaupt, im Nahen Osten wirklich etwas bewegen können. Der Grund ist einfach: Die USA sind als Verbündeter und Waffenlieferant Israels eben auch in der Lage, auf die Israelis Einfluß zu nehmen. Die Europäer beschränkten sich damals darauf, Sadats eigene Forderungen an Israel noch zu überbieten. Allerdings darf man nicht vergessen, daß in dieser Zeit die arabischen Öl-Staaten das Öl massiv verteuerten und gleichzeitig gegen bestimmte Staaten Boykotte ausriefen. Zu denen wollte niemand gehören.

Politik mit Tabubrüchen

Doch der eigentliche Grund, warum Anwar as-Sadat heute als eine Art Ikone des Friedens verehrt wird, ist seine Reise nach Jerusalem. Im November 1977 startete er eine Friedensinitiative mit einer Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset. Daß er ausgerechnet in Jerusalem auftrat, dürfte vielen Arabern bitter aufgestoßen sein - es war ein Tabubruch.
Doch nur mit Tabubrüchen kann man im Nahen Osten etwas bewegen. Zähe Verhandlungen mit der rechten Likud-Regierung folgten. Menachem Begin, der neue Ministerpräsident, war zwar ein harter Verhandler, aber im Gegensatz zum Westjordanland bedeutete die Sinai-Halbinsel für ihn wie für fast alle Israelis nur eine Pufferzone. So kam man, begleitet von massivem amerikanischen Druck der Carter-Regierung, endlich zusammen: Im März 1979 unterzeichneten Israel und Ägypten einen Friedensvertrag. Für Israel, das seit seiner Gründung nur von Feinden umgeben war, eine völlig neue Erfahrung.

Nobelpreis

1980 bekamen Sadat und Begin den Friedensnobelpreis. Zu Recht - und zu Unrecht. Begin, der ehemalige Freiheitskämpfer und Terrorist, handelte ebenso nach der Staatsräson wie Sadat. Sadat war kein Utopist einer besseren Welt, sondern ein äußerst geschickter Realpolitiker, der wie kein anderer auf der Klaviatur der amerikanischen und israelischen Psyche zu spielen verstand.
Sein Wunsch nach Frieden hatte auch ganz handfeste innenpolitische Gründe, denn die immensen Militärausgaben belasteten die schmalbrüstige ägyptische Wirtschaft außerordentlich.
Trotzdem: Im Gegensatz zu seinen Potentaten-Kollegen in der arabischen Welt hat nur Sadat Israel ein Stück erobertes Gebiet wieder abgehandelt. Arafat wurde alt, grau, aber nicht Staatspräsident, und Assad junior träumt wie sein Vater immer noch von den Golan-Höhen.
Anwar as-Sadat war ein sehr untypischer Politiker: Ein weitblickender Stratege, einer, der seine Handlungen für sich sprechen ließ. Sein Format bewies er auch, als der Schah von Persien von den Mullahs verjagt wurde. Kein Staat wollte den flüchtigen Ex-Monarchen aufnehmen, dem man vor kurzem noch überall Furcht und Respekt entgegengebracht hatte. Nach einer Irrfahrt über den halben Erdball war es Sadat, der dem Schah bis zu dessen Tod Exil gewährte.

Zwanzig Jahre nach dem Mord an Sadat muß man ernüchtert feststellen, daß sich im Nahen Osten zwar viel ereignet, aber wenig verändert hat. Der Mut, über seinen Schatten zu springen, ist auch bei Politikern selten. Der Osloer Friedensprozeß scheiterte. Im letzten Jahr hätte Arafat seinen Palästinenserstaat haben können, als ihm Barak in Camp David sehr weit entgegenkam. Er hätte nur zugreifen müssen. Er tat's nicht, weil ihm Mut à la Sadat fehlte.
Und Israel wählte daraufhin Sharon, der nicht Sicherheit durch Frieden, sondern Frieden durch Sicherheit erreichen will: Eine offensichtliche Sackgasse. Und so ist es kein Wunder, daß man nostalgisch wird, wenn man an Anwar as-Sadat zurückdenkt.

G.D.