Leverkusen

Betroffen über so viel Betroffenheit

Oder: Darf der OB nach Oelde fahren?

Den Deutschen hängt gemeinhin der Ruf an, ihr Tun sei von einer besonderen Gründlichkeit geprägt. Wobei Gründlichkeit gerne als Kleinkariertheit beziehungsweise Engstirnigkeit interpretiert und somit zumeist negativ ausgelegt wird. Da gibt es auch das geflügelte Wort "Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit".
Was man insbesondere gerne den Beamten nachzusagen pflegt, wo es sich doch bei dem Beamtentum ebenfalls um eine so typisch deutsche Institution handelt. Andererseits kann Gründlichkeit eine Art von Tugend sein, die in unserer so schnellebigen Zeit zusehends unter die Räder kommt. Mitunter käme ein gewisses Maß an Gründlichkeit manch einem Metier durchaus zugute.

Allgemeine Betroffenheit

Man denke beispielsweise nur an die Berichterstattung in einer Vielzahl von Medien, wo die Resultate dann auch für sich sprechen und die journalistische Qualität eben zu wünschen übrig läßt. Schnelligkeit läßt sich zuweilen eben nur zu Lasten der Gründlichkeit erzielen.
Gründlich und dabei ebenso schnell hingegen ist man in unserer Republik mit dem, was man unter dem Begriff der Betroffenheit subsumiert.
Nach den Ereignissen des 11. September 2001 in New York und Washington breitete sich nach einer kurzen Phase der Sprachlosigkeit, die angesichts der Unfaßbarkeit der Geschehnisse wohl zunächst einmal jeden überkam, sehr schnell wieder eine allgemeine Betroffenheit aus.
Diese allgemeine Betroffenheit ist jedoch nicht mit der jeweiligen Betroffenheit einer jeden einzelnen Person gleichzusetzen. Es gilt hier zwischen einer kollektiven und der individuellen Betroffenheit zu unterscheiden, zwei ganz unterschiedliche Dinge.
Betroffenheit ist emotional gesehen eine Form der Trauer und Bestürzung, die wiederum eine sehr persönliche und intime Angelegenheit des Menschen ist. Mit dieser muß jeder auf seine eigene Art und Weise fertig werden und diesen Gemütszustand verarbeiten.
Hingegen haben wir in der Bundesrepublik mittlerweile eine regelrechte Betroffenheitskultur entwickelt, der sich der Einzelne kaum mehr entziehen kann, sofern er denn noch am öffentlichen Leben teilhaben will.
So vermeldete der Bundesverband des deutschen Getränkefachgroßhandels (GFGH) durch die Absage von Festen und Feiern infolge der verheerenden Terroranschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika einen Umsatzeinbruch von bis zu 20 Prozent.
Nun ist es in der Tat gänzlich unangebracht, nach derartigen Vorfällen die Korken knallen zu lassen. Zumal ja auch den wenigsten in den ersten Tagen danach zum Feiern zumute war.

Mangelndes Feingefühl?

Aber welche Schamfristen für welche wie auch immer gearteten Aktivitäten sind denn bitteschön einzuhalten? Durch welches Tun oder Unterlassen setzt man sich dem Druck der öffentlichen (oder gar nur der veröffentlichten) Meinung aus? Versuchen sich nicht manche Zeitgenossen mit möglichst öffentlichkeits- und vor allen Dingen medienwirksamen Betroffenheitsbekundungen gegenseitig zu überbieten?

Da wurde dem Oberbürgermeister der Stadt Leverkusen, die im Jahre 2005 die Landesgartenschau ausrichten soll, in einem Kommentar der Lokalpresse zum Vorwurf gemacht, am Tag nach dem 11. September 2001 ins westfälische Oelde gereist zu sein. Dort wurde die diesjährige Landesgartenschau veranstaltet. Sinn und Zweck dieser Reise war es, sich vor Ort über die dortige Veranstaltung zu informieren, nützliche Erkenntnisse aufzugreifen und mögliche Fehler von vornherein zu vermeiden.
Insofern hatte die Dienstreise nach Oelde ihre Berechtigung, zumal das beschauliche Oelde zweifelsohne nicht mit so pulsierenden Metropolen wie London oder Paris gleichzusetzen ist. Dies hielt die verantwortliche Redakteurin jedoch nicht davon ab, dem Oberbürgermeister mangelndes Feingefühl zu unterstellen.

Rekordverkauf

Jedoch stellte die betreffende Tageszeitung am Tag nach dem 11. September auch nicht ihr Erscheinen aus, sondern kam ihrer journalistischen Pflicht der Berichterstattung nach. Und im Nachhinein stellte man sogar fest, daß in den Tagen nach den Anschlägen an manchen Stellen im Stadtgebiet keine Tageszeitung mehr zu kaufen war, da die Bürger im Zweifelsfall doch die Printmedien zur Information bevorzugen.
Stolz präsentierte man gar einen leeren Zeitungsstand im Bild und zitierte eine Zeitungsverkäuferin, die sich an vergleichbar hohe Verkaufszahlen nur zu den Zeiten erinnern konnte, als die elektronischen Medien noch keine derart große Verbreitung hatten.
Dabei käme ja auch niemand auf die Idee, besagter Zeitung vorzuwerfen, durch eine erhöhte Verkaufsauflage indirekt von den Terrorakten profitiert zu haben. Insofern kann man den kommentatorischen Ausfall jener Redakteurin getrost der Beschränktheit zuschreiben, die eben manch eine Lokalredaktion in unregelmäßigen Abständen heimsucht.
Daneben war nach dem 11. September 2001 noch manch andere Besonderheit zu vernehmen. So spielte das zweite Hörfunkprogramm des Westdeutschen Rundfunks (WDR) entgegen der üblichen Gewohnheit tagelang nur englischsprachige Musikstücke, vorzugsweise Balladen und langsame Rockmusik.
Die kollektive Betroffenheit wurde jedoch auch schon vor dem 11. September 2001 mit großer Gründlichkeit nahezu kultiviert. Dazu bedurfte es nicht erst der Vorfälle in den USA. Speziell Straftaten, deren Urheber man gewöhnlich der rechten Szene zuordnet und denen in der Regel Ausländer und deren Einrichtungen zum Opfer fallen, sind und bleiben Anlässe für eine kollektive und verordnete Betroffenheit.

Oft sehr bequem

Die findet ihren Ausdruck dann mitunter schon einmal vorsorglich in Lichterketten, Mahnwachen oder Aufrufen. Dabei nimmt man dann schon einmal in Kauf, daß die vermeintlichen Täter eben nicht jene waren, die man leichtfertig als Urheber wähnte. Was die vorgenannten Taten keinesfalls beschönigen oder verharmlosen soll.
Straftaten bleiben Straftaten, egal von welchen Tätern diese auch immer aus welchem Motiv heraus begangen werden. Egal ob von gewöhnlichen Kriminellen, rechten oder linken Gesinnungsgenossen oder aus religiösen Überzeugungen verübt.
Aber die öffentlich zur Schau gestellte Betroffenheit hat natürlich neben der beabsichtigten Publizität noch einen weiteren ganz erheblichen Vorteil: Sie kostet nichts, ist demnach von demjenigen der sie äußert, zumeist nicht mit irgendwelchen spürbaren Einschränkungen verbunden und somit sehr bequem. Sie kommt in vielen Fällen leichter über die Lippen als die alltägliche praktizierte Solidarität und das Zusammenleben beispielsweise mit ausländischen Mitbürgern.
Solidaritätsaufrufe werden in diesem Zusammenhang nicht überwiegend von denjenigen unterzeichnet, die in Hausgemeinschaften mit Ausländern leben oder die ihre Kinder auf Schulen schicken, wo der Anteil ausländischer Schüler schon längst den der deutschen Kinder übersteigt. Für wen es schick ist, sich derartig solidarisch zu erklären, für den beschränkt sich der Umgang mit Ausländern oftmals nur darauf, gerne zum Italiener oder Griechen um die Ecke essen zu gehen.
Für meine Person behalte ich mir jedenfalls vor, über meine ureigene persönliche Betroffenheit wann und wie selbst zu entscheiden.
So werde ich auch meine Trauer über die unschuldigen Opfer des 11. September nicht öffentlich zu Markte tragen. Denn der Worte sind genug gesagt, und der inflationäre Gebrauch der Betroffenheit wird der Tragik des Geschehens letztendlich auch nicht mehr gerecht.
Und da mich das alles so betroffen macht, gehe ich nun lieber erst einmal zum Türken, einen Döner essen, und das nicht nur aus Solidarität mit unseren ausländischen Mitbürgern.