Politik

Kaderpartei

Münteferings Auslegung der Gewissensfreiheit

Angesichts der weiter nachlassenden Konjunktur, steigender Arbeitslosenzahlen und einem wieder spürbaren Preisauftrieb, sieht sich Bundeskanzler Gerhard Schr&aouml;der dem Vorwurf dessen ausgesetzt, was man unter der Regentschaft Helmut Kohls nur all zu gerne mit dem Begriff des Aussitzens umschrieb.

Eingeschlafene Hand

Was Schröder jedoch als Politik der ruhigen Hand beschreibt, wird ihm zunehmend als Handlungsunfähigkeit ausgelegt, quasi als eine Politik der erstarrten oder eingeschlafenen Hand.
Um sich aber zumindest formal das Gesetz des Handelns zu bewahren, herrscht nunmehr innerhalb der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion offenbar ein Stil der harten Hand. Gewissermaßen verkörpert durch die rechte Hand des SPD-Vorsitzenden Schröder, seinem Generalsekretär Franz Müntefering.
Auslösendes Moment dafür war die Abstimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Mazedonien-Einsatz. Bei dieser Entscheidung folgten insgesamt 19 SPD-Abgeordnete nicht ihrer Fraktion. Mit der Folge, daß zwar durch einen breiten Konsens aller im Bundestag vertretenen Fraktionen, mit Ausnahme der PDS, eine breite Mehrheit dafür zustande kam, erstmals aber seit dem Amtsantritt Schröders die Regierungsmehrheit verfehlt wurde.
Dies veranlaßte Generalsekretär Müntefering dazu, offene Drohungen in Richtung der 19 Abweichler auszustoßen, indem er besagten unsicheren Kantonisten für die kommende Bundestagswahl im Herbst 2002 als Konsequenz mit dem Verlust ihres Mandates drohte. Dies zu bewerkstelligen ist insbesondere bei den Abgeordneten möglich, die ihren Wahlkreis nicht direkt geholt haben, sondern über die Absicherung auf einem vorderen Listenplatz in das Parlament eingezogen sind.

Fraktionsdisziplin und Gewissen

Um seiner Drohung auch gleich den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, wurden kurzfristig sämtliche Landes- und Bezirksvorsitzende der SPD in die Regierungshauptstadt einbestellt. Diese Fürsten haben bekanntlich bei der Aufstellung von Listen ein gewichtiges Wort mitzureden.
Nun sind Abgeordnete durch die in Artikel 38 des Grundgesetzes garantierte Freiheit des Mandates allein ihrem Gewissen verpflichtet. Dennoch gibt es den Begriff der Fraktionsdisziplin, die gerne als sogenannter Fraktionszwang mißverstanden wird, aber durchaus sinnvoll ist und letztendlich den Zweck einer Fraktion ausmacht. Schließlich ist eine Fraktion ein Zusammenschluß von Mandatsträgern, welcher die politischen Ziele einer Partei vertritt, die hinter der Fraktion steht. Ohne Fraktionen oder Gruppen wäre jeder Abgeordnete, egal ob er ein Mandat auf Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene ausübt, ein Einzelkämpfer. Dementsprechend würden dann auch die Entscheidungen der Volksvertretungen ausfallen, nämlich wie Kraut und Rüben, mehr oder weniger durch Zufall zustande kommend.

Fraktionszwang notwendig, ...

Durch die Fraktionen wird bereits im Vorfeld von Entscheidungen eine Meinungsbildung gewährleistet, und durch verschiedene Schwerpunkte einzelner Mitglieder der Fraktion muß sich nicht jeder Abgeordneter als Generalist behaupten, was aufgrund der Vielzahl und der Komplexität der zu treffenden Entscheidungen ohnehin kaum mehr möglich ist.
Bei den allerwenigsten Entscheidungen handelt es sich im übrigen jedoch um solche, die das Gewissen berühren. Sachfragen beherrschen das politische Tagesgeschäft, dort ist das Gewissen lediglich hinsichtlich der politischen Gesamtrichtung gefragt.

..., aber nicht immer

Bei der Entsendung von Soldaten in Krisengebiete außerhalb des NATO-Bündnisses, wie eben nach Mazedonien, kann der einzelne Abgeordnete aus gutem Grund Gewissensgründe für sich reklamieren. Handelt es sich dabei doch um einen nicht ungefährlichen Einsatz, der das Leben der entsendeten Bundeswehrsoldaten ganz real gefährdet. In solchen Fällen ist es legitim, die Entscheidung von seinem Gewissen abhängig zu machen.
Geht es jedoch nach "General" Müntefering, hat für die Mitglieder der SPD-Fraktion nicht das Gewissen, sondern ausschließlich die Mehrheitsmeinung der Genossen zu zählen. Da verfängt auch nicht sein Hinweis darauf, die Parlamentarier der SPD seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu eben jener Partei gewählt worden. Es soll auch Abgeordnete geben, die aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer Fähigkeiten und ihres Engagements wegen gewählt werden. Selbst eingedenk der Tatsache, daß sie der SPD angehören. Aber mit Direktwahlen hatte die SPD schon immer so ihre geregelten Schwierigkeiten.

Hochgradige Nervosität

Verwundern mag einen nur noch die Art und Weise, wie die Partei- und Fraktionsspitze der SPD die Kritik an ihren 19 Abweichlern derart an die Öffentlichkeit trug. Das hatte schon etwas von einer öffentlichen publizistischen Hinrichtung an sich. Normalerweise trägt man derartige Konflikte in internen Gesprächen hinter verschlossenen Türen aus. So jedoch dürfte von vornherein viel Porzellan zerschlagen worden sein, und in den Wahlkreisen der von der Fraktionslinie abgewichenen Abgeordneten dürfte es in dem einen oder anderen Fall an der Basis zu Solidarisierungen gegen die SPD-Führung gekommen sein.
Offensichtlich spricht der Amoklauf Münteferings mehr für eine hochgradige Nervosität und weniger für natürliche Souveränität. Oder soll gar die Ausrichtung der SPD nach Art einer altstalinistischen Kaderpartei der weiteren Annäherung und Zusammenarbeit mit den Genossen von der PDS dienlich sein?
Wie dem auch sei, Müntefering wurde zwischenzeitlich wegen der Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgangs (§ 106 Strafgesetzbuch) angezeigt.