Editorial

Zeit für Strategen

Warum die USA gut daran tun, vorsichtig vorzugehen

Wer steckt hinter den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon? Wo liegen seine Motive? Was wollte er bezwecken?
Die Objekte der Anschläge, nämlich wirtschaftliche und militärische Symbole, und die Art der Inszenierung macht klar, daß die USA getroffen, gedemütigt und provoziert werden sollten.
Da es sich bei den Tätern offensichtlich um radikale Islamisten handelte, ist die Frage, wer der große Drahtzieher war, für die politische Analyse weniger wichtig. Ob Usama bin Ladin oder jemand anders - das Ziel war dasselbe. Und es gibt zwei große Ziele, die alle radikalen Islamisten des Nahen und Mittleren Ostens anstreben: die Auslöschung Israels und den Sturz der prowestlichen Regierungen in den islamischen Staaten.

Kampf gegen gemäßigte Regime

Es ist bekannt, daß - um bei ihm zu bleiben - Usama bin Ladin die saudische Herrscherfamilie am liebsten stürzen würde; vor allem, weil sie amerikanische Truppen ("Ungläubige") den "heiligen Boden" des Ursprungslands des Propheten Mohammed "beflecken" lassen. Das mittelfristige Ziel der islamistischen Bewegung sind "Gottesstaaten" ā la Afghanistan oder Iran in allen muslimisch dominierten Ländern der Erde.
Der größte Widersacher in diesem Kampf sind nicht nur die jeweiligen Staaten und ihre Geheimpolizei, sondern vor allem die USA. Sie sind Israels im Grunde einziger Verbündeter, der zählt, sie pflegen aber auch traditionell gute Beziehungen zu den arabischen Staaten. Die USA sind auch die einzige Macht, die Palästinenser und Israelis - vielleicht - zu einem Friedensschluß bewegen könnte. Ein solcher Friedensschluß wäre den radikalen Islamisten ebenfalls ein Dorn im Auge. Denn schließlich wollen sie ja Israels Vernichtung.
Wenn die Amerikaner angemessen reagieren wollen (und reagieren müssen sie), sollten sie die politischen Ziele hinter dem Anschlag nicht vernachlässigen. Denn hier wird auch versucht, einen Keil zwischen die gemäßigten islamischen Regierungen und deren Bevölkerung zu treiben, wie es derzeit in Pakistan demonstriert wird.

Hoffnung auf Vergeltung

Die Drahtzieher der Attentate hoffen - so pervers das klingen mag - auf massive Vergeltung, die wenig Unterschiede macht zwischen Tätern und Opfern. Das ist der geeignetste Weg, um islamistischen Bewegungen die Massen in die Arme zu treiben und gegen die Regierungen aufzuhetzen.
Beurteilt man die ersten anderthalb Wochen nach dem Anschlag, so muß man der Bush-Regierung fast uneingeschränktes Lob zollen. Die unangemessenen starken Sprüche der ersten Tage von Präsident Bush, Verteidigungsminister Rumsfeld und dessen Stellvertreter Wolfowitz sind einer nüchterneren Analyse gewichen. Außenminister Colin Powell beweist diplomatisches Geschick beim Zusammenbau einer großen Koalition gegen den Terror.

Die große Koalition

In dieser Koalition liegt eine Chance, aber auch ein Risiko. Die Chance könnte sein, die Terroristen so weit wie möglich zu isolieren, ihnen mögliche Sympathisanten zu entziehen. Das Risiko liegt darin, daß die islamischen Staaten dieser Koalition sich wieder innenpolitischen Ärger einhandeln könnten. Doch dieses Risiko muß eingegangen werden.
Manches Gerede in den letzten Tagen ist von kaum zu überbietbarer Schlichtheit. Wenn sich die Amerikaner im Nahen Osten in den letzten Monaten stärker engagiert hätten, wäre das nicht passiert, so eine populäre Ansicht. Bei der politischen Zielsetzung der Killer höchst unwahrscheinlich; zudem wurde der Anschlag ja anscheinend jahrelang geplant. Richtig daran ist höchstens, daß die Köpfe hinter dem Verbrechen natürlich einen passenden Zeitpunkt abgewartet haben.

Natürliche Zielscheibe

Die Amerikaner können außenpolitisch wenig tun, um ihrer Rolle als Zielscheibe Nummer Eins zu entgehen. Von ihrer symbolischen Bedeutung als westlicher Supermacht (und damit natürlicher Gegner islamistischer Eiferer) abgesehen, können die strategischen Interessen am Golf nicht einfach aufgegeben werden; auch die Europäer profitieren von dieser amerikanischen Politik (wir wollen ja billig tanken). Das heißt natürlich nicht, daß sie nicht manches verändern könnten.
So sollten sich die USA ernsthaft fragen, ob es nicht an der Zeit ist, einige zarte Bindungen zum Iran zu entwickeln. Die Besetzung der US-Botschaft durch fanatisierte "Studenten" ist nun über 20 Jahre her. Der Iran ist aber heute wie seit jeher strategisch von höchster Wichtigkeit, von vorwiegend sunnitisch geprägten Nachbarn umgeben und mit Grenzen zum Persischen Golf, Afghanistan, Irak und Pakistan.
Interessant ist, daß im Rahmen der Koalition gegen den Terror die USA auch Verbindungen zu alten Erzfeinden wie Kuba und Sudan geknüpft haben. Hier liegt die vielleicht einzige größere Hoffnung nach den Anschlägen: Daß der Anschlag manche festgefahrene überflüssige Konfrontation aufbricht.

G.D.