Satire

Kirch im Dorf lassen

Katastrophen-Premiere

München. Konzernzentrale der Kirch-Gruppe. Hektische Betriebsamkeit auf den Fluren. Es herrscht Krisenstimmung. Leo Kirchs Lieblingskind, der Fußball, läuft nicht. Die letzten Zuschauer von "ran" sind zu Marcel Reich-Ranickis "Literarischem Quartett" übergelaufen.

Verschüchterter Assistent: ... ja schön, Chef, aber das "Literarische Quartett" gibt?s doch nicht mehr lange.
Kirch: Um so schlimmer! Wer weiß, wohin die Leute dann abwandern! (durchbohrt den Assistenten mit einem bösen Blick) Was wir brauchen, ist eine Idee, um "ran" und SAT.1 wieder attraktiv zu machen.
Assistent (kaum hörbar): Man könnte ja "ran" wieder auf den alten Sendeplatz bringen - oder noch früher -
Kirch: Auf keinen Fall. Sollen ein paar Prolls etwa meine Visionen durchkreuzen? Was ist wichtiger: Freier Fußball für alle oder Geld für uns? (wischt den Fußball entnervt beiseite) Was machen unsere anderen Projekte?
Wie auf Stichwort fliegt die Tür auf, und eine aufgetakelte Blondine mit etwas zu viel Make-Up stolziert hochhackig hinein. Sie präsentiert auf einem Silbertablett die Büchse der Pandora, eine mattschwarz glänzende Plastikbox, aus der einige Drähte heraushängen.
Kirch (Miene hellt sich auf, zieht Hand von ihrem Hintern weg): Aaaaah, endlich ist sie fertig. (Runzelt die Stirn) Und was sollen die Drähte?
Blondine: Mein zehnjähriger Sohn hat getestet, wie lange er diesmal braucht, um den Dekoder zu knacken.
Kirch (ahnt Böse)s: Und?
Blondine: Diesmal immerhin zehnmal so lange wie beim letzten Mal: 20 Minuten. Ich konnte ihn gerade noch daran hindern, die Dekodierpläne ins Internet zu stellen.
Kirch: 20 Minuten reichen. 10jährige sind fitter als Fußballverrückte. Kommen wir zum inhaltlichen Teil der K-Box. K wie Katastrophen. Wie steht?s mit der weltweiten Exklusivität?
Assistent: Eigentlich ganz gut. Allerdings wollten wir ja zum Vermarktungsbeginn in vier Wochen den Ätna-Ausbruch live und exklusiv als absoluten Blockbuster ordern. Dummerweise verstehen die italienischen Vulkanologen weder etwas von Marktstrategie noch von Just-In-Time-Lieferung. Der verdammte Hügel ist zu früh hochgegangen, unsere Explosivrechte sind in Rauch aufgegangen, und zwei Techniker von uns haben Brandblasen am Hintern. Die 64 Spezialkameras sind Totalverlust.
Kirch (gelassen): Kein Problem. Das haben wir gleich. (Greift zum Hörer und wählt eine italienische Geheimnummer) Hallo Silvio - ja danke, gut ... wir brauchen hier dringend Quote, und deutsche Katastrophen kommen hier nicht so gut an ... ja ... ja ... Hatten wir uns nicht beim Ätna-Ausbruch auf ein paar Wochen später geeinigt? ... Wie, du mußtest es vorverlegen, um dein eigenes Pay-TV anzukurbeln - was ist mit mir? Wir sind schließlich Schützengrabengenossen ... Nein, mir hilft es nicht, wenn du den Lavastrom umleitest und mehrere Dörfer abfackelst! .... Ersatz? ... Überschwemmungen? Ah ja. Tausende getürkte Baugenehmigungen in der Po-Ebene ... keine Stabilität ... jede Menge Dramaturgie ... Herz und Schmerz und italienische Zustände - das klingt gut. Aber halt dich dran, sonst qualmt?s, und nicht nur auf dem Ätna! (Legt auf).
Assistent: Unsere weiteren Programmpunkte für den Start der K-Box laufen hingegen zufriedenstellend. Wir konnten zwei Tsunamis in Japan ordern, eine Hochwasserkatastrophe in Bangladesh und eine Zerstörung unwiederbringlicher Kulturgüter in Afghanistan.
Blondine: Wollten wir nicht noch die Rodung des tropischen Regenwaldes reinnehmen?
Assistent: Läuft als Testbild im Nachtprogramm.
Kirch: Was mich vor allem besorgt, ist die katastrophenarme Zeit. Was macht Volcano Island, unser Sommer-Hype zur Überbrückung?
Assistent: Die Arbeiten sind im vollen Gang. Wenn?s fertig ist, haben wir alles, was das Herz begehrt: Herrliche Lavaströme, jede Menge abgefackelte Souvenirbuden, spielende Kinder im Ascheregen, kreischen Frauen ... (wehmütig) Ach wäre, Pompeji doch 2000 Jahre später untergegangen. Die Quoten! Die Quoten!
Kirch: Kommen wir zu unserem nächsten Versuchsprojekt: Die S-Box. S wie Schlägerei. Von der zünftigen Kneipenschlägerei in Kreuzberg bis zum hochtechnisierten Castor-Happening ist alles dabei - und natürlich auch der Fernsehzuschauer, wenn er zahlt.
Blondine: Oder knackt.
Kirch: Für die S-Box brauchen wir eben eine erheblich bessere, schlagfeste Codierung. Besonders wichtig ist: Das Programm muß familienfreundlich sein, also frei ab 12 Jahren.
Assistent (leicht perplex): Und wie soll das gehen?
Kirch: Wir können ja wenige Sekunden zeitversetzt senden und die brutalen Szenen rausschneiden, die dann in einem Zusammenschnitt unseren Stammkunden präsentiert werden, in einem anderen, teureren Paket als S-Box de Luxe, kombiniert mit den blutigsten Grätschen aus der Bundesliga. (Lehnt sich befriedigt zurück) Das ist Strategie.
Assistent: (wortlos seinen Chef bewundernd)
Blondine (liest ein ihr zugestecktes Papier): Oh Schreck: Unsere Premiere-Bundesligaquote ist auf 0,7% abgesackt Negativrekord weltweit. Eine Katastrophe!
Kirch (ungerührt): Katastrophe? Also ein Fall für unsere K-Box: Das dramatische Ende eines ambitionierten Senders. Demnächst in sechs Einstellungen auf Ihrem Bildschirm.

G.D./M.P./MiWi