Politik

Tschernobyl

15 Jahre später

Vor 15 Jahren, am 26. April 1986, um 13:00 Uhr, starteten sowjetische Ingenieure im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerkes von Tschernobyl ein unheilvolles Experiment, welches zum größten Atomunfall der Menschheitsgeschichte werden sollte.
Um die Zeitspanne zwischen dem Ausbleiben der Dampfdruckzufuhr auf die Turbinen und deren Nachdrehen zu messen, was im Notfall die Zeit bis zur Aktivierung der Notstromaggregate überbrücken soll, fahren sie den Reaktor bis auf 7% seiner normalen Leistung herunter. Da sich das Kraftwerk allerdings bei solch niedriger Leistung aufgrund von Sicherheitssystemen selbst abschalten würde, werden diese kurzerhand außer Betrieb gesetzt. Dazu wurden u.a. das Notkühlsystem abgeschaltet und die Steuerstäbe, welche die Kettenreaktion kontrollieren, herausgezogen.

Unkontrollierte Kettenreaktion

Am 27. April, um 1:23 Uhr verlieren die Ingenieure die Kontrolle über den Reaktor. Innerhalb weniger Sekunden erreicht die Anlage eine Leistung von 50% - bei ausgeschalteter Kühlung. Die eingeleiteten Notmaßnahmen können die Katastrophe nicht mehr aufhalten.
Die Einführung der Steuerstäbe scheitert, da sich die Einschubkanäle bereits durch die enorme Hitze verformt haben. Durch die nun unkontrollierte Kettenreaktion spaltet sich das Kühlwasser, welches durch den Kern fließt, und es entsteht ein hochexplosives Wasserstoffgemisch, welches wenig später die Reaktorhülle in einer Explosion zerreißt. Darüber hinaus beginnt der Graphitkern des Reaktors unkontrolliert zu brennen.
Der Rest der Welt erfuhr davon allerdings erst Tage später. Aufmerksam wurde man erst, als im Atomkraftwerk Formark in Nordschweden deutlich erhöhte Radioaktivität gemessen wurde und man von einem Unfall in dieser Anlage ausging. Vorsorglich wurde das Kraftwerk und Umgebung evakuiert. Doch bald stellt sich heraus, dass die Strahlung aus der benachbarten Sowjetunion stammt. Die westlichen Regierungen begannen den Sowjets unangenehme Fragen zu stellen, und die rückten nur scheibchenweise mit der Wahrheit heraus.

Evakuierung der Bevölkerung

In der Zwischenzeit wurden mehr als 135.000 Menschen in einem 30-km-Umkreis um den Unglücksreaktor evakuiert. An die Bevölkerung wurden Jodtabletten ausgegeben, welche die Aufnahme von radioaktivem Jod durch die Nahrungskette verhindern soll.
Währenddessen bemühen sich Tausende "Freiwillige", das Atomfeuer im Block 4 zu löschen. Dazu werden Tausende Tonnen Sand, Beton und Blei über dem Brand abgeworfen. Für Tausende Helfer in der harten Strahlung bedeutet dies den sicheren Tod. Viele sterben innerhalb weniger Wochen an Strahlenkrankheiten. Der Brand kann schließlich am 30. April eingedämmt werden. Die Gefahr der Zerstörung der anderen Reaktoren scheint vorerst gebannt. Eilig begann man mit der Errichtung einer 60 cm starken Betonhülle um den Block, um eine Verseuchung des Grundwassers durch ablaufendes Regenwasser zu verhindern. Diese Hülle ging als "Sarkophag" in die Geschichte ein.
Offiziell spricht die sowjetische Regierung von lediglich 2 Toten durch die Explosion des Reaktorkerns und der Zerstörung eines Teils der Baukonstruktion. Später räumt man ein, dass die 30- bis 40-fache Menge an Radioaktivität freigesetzt wurde, als bei dem Atomangriff der Amerikaner auf Hiroshima im 2. Weltkrieg.

Folgen in Westeuropa

Die Folgen auch für Westeuropa waren beachtlich. In Polen wurde die 500fache der sonst üblichen Strahlendosis gemessen. In Skandinavien, woher die radioaktive Wolke zuerst gezogen war, wurden weite Teile des Landes verseucht.
In Deutschland, insbesondere in Bayern, kommt es zu starken Regenschauern, welche 80% der Reststrahlung auf dem Boden niedergehen lässt. Die Ernte in diesen Gebieten wird aufgegeben. Vom Verzehr örtlicher Nahrungsmittel, die unter freiem Himmel gewachsen waren, wird dringend abgeraten.
Die Katastrophe führte zu einem gewaltigen Umdenken in der Bevölkerung. Das Vertrauen in die vorgeblich narrensichere Technologie war bei vielen Menschen dahin. Einige Regierungen in Nordeuropa beschlossen den Ausstieg aus der Kernenergie. In anderen Ländern, darunter Deutschland, gehen die Diskussionen und Demonstrationen weiter - wie die letzten Castor-Transporte gezeigt haben.
Noch immer gelten weite Teile Deutschlands als belastet. Vom Pilzesammeln wird auch 15 Jahre danach immer noch abgeraten, da viele Waldböden verstrahlt sind und sich die Radioaktivität in den Pilzen ansammelt.
Die Folgen im Unglücksgebiet der heutigen Ukraine haben immer noch apokalyptische Züge. Die Mutationsrate und die damit einhergehenden Missbildungen bei Kindern sind weltweiter trauriger Rekord.
Aufgrund der wirtschaftlichen Not ist die Ukraine unfähig, diesen Menschen zu helfen. Doch auch diejenigen, die augenscheinlich gesund geblieben sind, sehen einer hoffnungslosen Zukunft entgegen. Noch immer sind Zehntausende in den gleichen Notunterkünften wie vor 15 Jahren. Hoffnung auf Besserung oder Arbeit haben sie nicht. Viele sind trotz Verbot in ihre alten, verstrahlten Dörfer zurückgekehrt.
Nach jahrelangen Verhandlungen wurde das Kraftwerk Tschernobyl, welches mit einem intakten Reaktor immer noch Strom produzierte, endgültig stillgelegt. Als Ersatz finanzierten zahlreiche Nachbarstaaten, darunter Deutschland, zwei Erdgaskraftwerke.

Gefahr noch nicht gebannt

Wie viele Menschen direkt oder indirekt an den Folgen der Katastrophe gestorben sind, ist nicht bekannt. Es dürften aber Zehntausende sein.
Doch die Gefahr ist noch lange nicht gebannt. Der noch immer heiße Kern "zerkochte" in den letzten 15 Jahren mit seiner harten Strahlung die innere Oberfläche des "Sarkophags", welcher nach Angaben ukrainischer Ingenieure mittlerweile die Konsistenz eines "bröseligen Kekses" haben soll. Ein Austausch der Nothülle mit den damit verbundenen gigantischen Kosten (an der sich wohl wieder alle Nachbarstaaten beteiligen werden), ist dringender denn je. Stürzt die Hülle ein, wird wieder unkontrolliert Radioaktivität in die Umwelt abgegeben.
Ungeachtet dessen sind immer noch zahlreiche, baugleiche Kraftwerke im ehemaligen Ostblock am Netz. Bleibt zu hoffen, dass deren Ingenieure weiser vorgehen, wenn sie Experimente durchführen.

MiWi