Editorial

Es kommt noch dicker

Rente mit 60: Hoffentlich nur ein taktisches Spielchen

"Der nackte Wahnsinn" nannte die für drastische Formulierungen nicht gerade bekannte Frankfurter Allgemeine Zeitung die neuesten Pläne von Bundesarbeitsminister Walter Riester zur "Rente mit 60".
Auf Drängen der IG Metall will Riester entgegen vorherigen Erklärungen nun doch das Frühverrentungskonzept der Gewerkschaften durchsetzen. Es sieht vor, denjenigen Arbeitnehmern, die mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen wollen, dies mit der Auszahlung des vollen Rentenanspruchs zu versüßen. Finanziert werden soll dies mit sogenannten Tariffonds, die sich aus 1% der jährlichen Lohnsteigerungen speisen Diese Summe soll hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erbracht werden. Wenn die Arbeitgeber für den Ausgeschiedenen eine neue Kraft einstellen, sollen die Tariffondskosten für sie wegfallen.
Leider ist die Idee keineswegs so bestechend, wie sie auf den ersten Blick scheint. Das weiß auch die Bundesregierung, vermutlich auch Walter Riester. Es liegt nahe, daß nach den verheerenden Wahlniederlagen die Nähe zu den Gewerkschaften gesucht und gleichzeitig versucht wird, diese bei Laune zu halten, damit das "Bündnis für Arbeit" nicht platzt.
So bleibt eine leise Hoffnung, daß das Schröder-Team den "nackten Wahnsinn" erst einmal nur taktisch einsetzt. Und schließlich sind da noch die Arbeitgeber, ohne die der Plan nicht funktionieren wird. Auf sie sollte man allerdings keine großen Hoffnungen setzen. Zu oft sind sie in der Vergangenheit eingeknickt - besonders wenn die Möglichkeit bestand, sich gemeinsam mit den Gewerkschaften beim Staat zu bedienen.
Die "Rente mit 60" wird dafür sorgen, daß das Hauptproblem der Rentenversicherungen, die immer älter werdenden Menschen, künstlich massiv verschärft wird.
Die Vergangenheit hat mit ihren verschiedenen Frühverrentungsversuchen gezeigt, daß sie besonders dazu verwendet wurden, Personal elegant abzubauen, ohne Entlassungen aussprechen zu müssen - und das auf Kosten der Beitrags- und Steuerzahler. Teure Sozialpläne wurden so auf Kosten der Allgemeinheit umgangen. Die gleiche Gefahr droht auch jetzt wieder.


Belastung der Jungen

Zu den positiven Ideen Riesters der letzten Monate gehörte die private Zusatzvorsorge. Sie hätte auch den Anfang der Umstellung des Rentensystems auf Kapitaldeckung bedeuten können. Doch die "Rente mit 60" geht in die alte, verfehlte Richtung: Die arbeitenden Jungen finanzieren mit ihren Beiträgen die Rente der Alten und gar nicht so Alten - mit 60 ist man heute biologisch wesentlich fitter als vor 30 Jahren.
Ob man das Kind nun Tariffonds oder Beitragserhöhung der Rentenversicherung nennt, ist pure Wortklauberei.
Natürlich ist es auch vollkommen naiv, sich vorzustellen, daß die Gewerkschaften nun solidarisch zugunsten der Rentner auf 1% Lohnsteigerung verzichten. Dieses Prozent wird sich in erhöhten Forderungen in der nächsten Tarifrunde wiederfinden. Damit drohen weitere Erhöhungen der Lohn- und Lohnnebenkosten. Weitere Personaleinsparungen in der Industrie sind damit so gut wie sicher. Und damit werden auch die Ausgaben der Sozialversicherungssysteme wieder steigen.
Wenn die Arbeitgeber für den frühpensionierten Mitarbeiter eine Neueinstellung vornehmen, sollen sie von der Finanzierung des Fonds für den Frührentner befreit werden. Nur: Wer finanziert ihn dann? Die Antwort ist simpel: Der Steuer- und Gebührenzahler.


Taktische Spielchen

Die Bundesregierung kennt natürlich die Schwachpunkte der Idee. Aber sie setzt auf das "Bündnis für Arbeit", nicht so sehr, weil sie von seinem Erfolg überzeugt wäre (nur Träumer glauben, man könne am runden Tisch Arbeitsplätze schaffen), sondern weil sie hofft, das erwartete Zusammenfallen einer konjunkturellen Erholung am Arbeitsmarkt werde von den Wählern als Ergebnis des Bündnisses interpretiert. Für dieses Bündnis braucht man aber die Gewerkschaften, und die beharren auf der "Rente mit 60"-Idee - nicht zuletzt auch als Zugeständnis für die Scharfmacher in der IG Metall, die eine weitere Verkürzung der Wochenarbeitszeit befürworten.
Trotz allem wird mittelfristig nichts an einer wenigstens zum Teil kapitalgedeckten Rente vorbeiführen. Also einer Rente, deren Beiträge tatsächlich eingezahlt und als Kapital angesammelt werden, anstatt - wie heute - direkt von der Hand der Arbeitnehmer in den Mund der Rentner zu fließen.
Hier liegt die eigentliche Herausforderung an das Rentensystem: Wie wird der Umstieg ohne allzu große soziale Härten durchgeführt? Welcher Teil der zukünftigen Rente wird kapitalgedeckt sein? Wie werden die zwangsläufig gigantischen Pensionsfonds gemanagt? Wird es in Zukunft nur noch eine steuerfinanzierte Grundrente geben, oder wird die nettolohnbezogene Rente in stark abgespeckter Form weiter existieren? Wie hoch wird in Zukunft der Anteil der Steuergelder sein? Werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch in Zukunft gemeinschaftlich in die Pflicht genommen?
Diese und viele weitere Fragen müssen beantwortet werden. Die alte Regierung hatte zu wenig Mut, die alten Pfade zu verlassen. Die neue hat mit dem unsinnigen Einschnitt in die Rentenerhöhung bei gleichzeitiger Abschaffung des (dämpfenden) demographischen Faktors schon viel Porzellan zerschlagen. Mit Politik von vorgestern, wie sie im "Rente mit 60"-Vorschlag zum Vorschein kommt, wird alles nur noch schlimmer.