Satire

Wahlabend

Die Hintergründe der Wahl in Klein-Anhalt-Lippe

Bundesland Klein-Anhalt-Lippe. Wahlabend. Alle 13 Wahllokale schließen. Im Landtag von Groß-Meckerau, der Hauptstadt dieses 17. Bundeslandes, richten sich die Kameras von ARD und ZDF punkt 18.00 Uhr auf die Moderatoren, die jetzt die Prognosen veröffentlichen dürfen.

ZDF-Moderator: ... und nach der Prognose der Forschungsgruppe Wahlen (Leiter der Forschungsgruppe Wahlen wird kurz eingeblendet und lächelt angestrengt) kommt die SPD auf 42%, die CDU auf 43%, die FDP auf 10, die Grünen auf 8%, die PDS auf 7% und sonstige auf 10%. Die DVU kommt nach unseren Berechnungen auf 5%. Mit Fug und Recht kann man wohl feststellen, das die Wählerinnen und Wähler dieses kleinsten Bundeslandes für eine faustdicke Überraschung immer gut sind ...

Leiter Forschungsgruppe Wahlen (runzelt die Stirn, hält sich an seinem Lächeln fest wie ein Ertrinkender an einem Stück Holz): Äh, an diesem Ergebnis kann etwas nicht stimmen. Das sieht man an allein schon an dem zweistelligen FDP-Ergebnis ... (hektische Betriebsamkeit) Ah, vergessen Sie die Prognose, wir haben gerade unsere erste Hochrechnung, basierend auf immerhin 5% der Stimmbezirke, also genau einem, dem Wahlbezirk Protzdorf. Danach kommt die SPD auf 18%, die CDU auf 22%, die FDP auf 40%, Grüne 15% und PDS 5%. Hiernach würde die FDP den Ministerpräsidenten stellen ...

FDP-Parteizentrale. Bei Häppchen, Lachsschnittchen und Champagner betritt unter dem euphorischen Wohlwollen der 26 Anwesenden die FDP-Chefin Heidrun Kampnitz-Schmitt-von Büllersdorf (von ihren Fans auch "HKSvB" genannt) die Bühne.

HKSvB: ... und lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen, liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde: Dieser dramatische Erfolg der liberalen Idee im kleinsten Bundesland Deutschlands wird als Leuchtturm des Wandels in der Gesellschaft und eine klare Absage an die Regierungspolitik des Bundeskanzlers gewertet werden. Lassen Sie es mich nicht versäumen, an dieser herausragenden Stelle und in Angesicht des besten FDP-Ergebnisses in der Geschichte der Bundesrepublik darauf hinzuweisen, daß der Trend kein Genosse mehr ist, sondern ein freier liberaler Bürger der Zivilgesellschaft -

ARD-Wahlstudio: Wir haben jetzt die erste Hochrechnung des Abends vorliegen.

Chef von Infas: Wir haben gerade unsere erste Hochrechnung, basierend auf immerhin 5% der Stimmbezirke, also genau einem, dem Wahlbezirk Prollhausen, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft der einzige Industriebetrieb des Landes liegt, der inzwischen pleite gemacht hat. Danach kommt die SPD auf 18%, die CDU auf 19%, die Grüne auf 1%, die PDS 20%, die DVU auf immerhin 42% und die FDP ist nicht meßbar.

Später am Abend: Das vorläufige amtliche Endergebnis steht fest:

  • SPD 36,5% - 8%,
  • CDU 42% + 7%;
  • Grüne 4,9% - 0,2%;
  • FDP 2,5% + 0,5%;
  • PDS 9% + 7%;
  • DVU 5,1% + 5,1%.

Umblendung in die "Elefantenrunde" der Vertreter der Parteien in Berlin (ohne DVU).

Moderator: Herr Müntefering, für Sie als SPD-Generalsekretär ein weiterer Schlag im sozialdemokratischen Kernland. Wie wird die Bundesregierung das verkraften?

Müntefering: Erst einmal ist Klein-Anhalt-Lippe kein sozialdemokratisches Kernland. Es gab dort immer auch CDU-Wähler. Heute waren sie eben in der Mehrheit. Vielleicht sind sie kurz vor der Wahl zugezogen, wer weiß.

CDU-Generalsekretärin Merkel (empört): Lächerlich! Gerade Klein-Anhalt-Lippe mit seiner traditionell tiefroten Wählerschaft hat heute machtvoll und voller Abscheu Abschied genommen von der Politik der Bundesregierung -

Grüne-Geschäftsführer Bütikofer: - bei einer Wahlbeteiligung von 36%. Das nennen Sie machtvoll?

CSU-Generalsekretär Goppel (zugeschaltet aus München): Eben, Herr Bütikofer: 64% der Klein-Anhalt-Lipperinnen und Lipper haben nichts gewählt, vor allem nicht die SPD und die Grünen! Und dann rechnen Sie zu diesen 64% noch die 42% der CDU - dieses Potential -

Merkel: - sprengt sogar die übliche Prozentrechnung.

Moderator: Herr Westerwelle, 2,5% - das kann Sie nicht befriedigen. Auch wenn Klein-Anhalt-Lippe nicht gerade zu Ihren Hochburgen zählt.

FDP-Generalsekretär Westerwelle: Immerhin haben wir 0,5% zugelegt. Wären nicht drei zuverlässigen FDP-Wählern vor kurzem die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden, wegen Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen, und hätten nicht vier Damen aus Protzdorf, die auf Weltreise sind, die Briefwahl vergessen - es sähe heute um die Liberalen schon besser aus. Aber bundespolitisch gesehen ist das Ergebnis, Herr Müntefering, eine schallende Ohrfeige für Ihre Politik.

Müntefering (rattert los): Unser Sparpaket ist ohne Alternative. Ohne Alternative ist unser Sparpaket. Es geht um die künftigen Generationen in diesem unseren Lande-

Goppel (verfällt ironisch in den typischen Singsang der Ökobewegung aus den 80ern): Also das macht mich irgendwie betroffen, ey. Also ich find schon daß wir hier irgendwo īne Diskurskultur aufbauen müssen, um unsere Ideen gemeinsam einzubringen, ey, denn ohne Alternativen herrscht der blanke Faschismus -

Bütikofer (freudig überrascht): Hey, gut! Ich wußte gar nicht, daß es solche Talente in Bayern gibt! (Goppel errötet verlegen)

Merkel (zu Müntefering): Aber vor sechs Monaten haben sie mit Oskar Lafontaine die gegenteilige Politik gemacht.

Müntefering: Ja, die war auch ohne Alternative. Es ging darum, die brutal-neoliberale Sparpolitik der Kohl-Regierung zu beenden.

Moderator (verwirrt): Herr Gysi, Klein-Anhalt-Lippe hat sich Ihrer Partei stark zugewandt. Wie erklären Sie sich das?

PDS-Fraktionschef Gregor Gysi: Im Gegensatz zu Herrn Müntefering hat der Wähler viele Alternativen. Und die beste ist natürlich die PDS. Nur die PDS steht für soziale Sicherheit, Bürgerrechte, Umweltschutz und die Ehrenrettung vieler depressiver Stasi-Mitarbeiter. Außerdem wurde hier das einzige Pflegeheim für ehemalige Führungskräfte der DDR gebaut -

Merkel: - das kein anderes Bundesland haben wollte und Klein-Anhalt-Lippe nur bekam, weil es sich nicht wehren konnte!

Goppel: Aber, lieber Herr Müntefering, besonders schändlich war das Verhalten Ihres Bundeskanzlers. Er ist nicht ein einziges Mal in Klein-Anhalt-Lippe im Wahlkampf aufgetreten. Wußte er, daß er der SPD höchstens Stimmen kostet?

Müntefering: Diese Unterstellung ist unglaublich und anwidernd. Natürlich wollte der Bundeskanzler in Klein-Anhalt-Lippe Wahlkampf machen -

Moderator (überrascht): Und warum hat er's nicht getan?

Müntefering (verlegen): Er wollte ja. Aber das Global Positioning System seines Audi hatte einen Jahr-2000-Fehler, und der Fahrer hat sich verfahren. Er hat Klein-Anhalt-Lippe einfach nicht gefunden.

Bis heute begreift SPD-Generalsekretär Franz Müntefering nicht, warum alle anderen Diskussionsteilnehmer in brüllendes Gelächter ausbrachen und die Sendung schließlich abgebrochen werden mußte, weil sich keiner beruhigen konnte ...

G.D. / K.R. / MiWi