Politik

Y2K

Oder: Ein Schiff wird kommen

Eiskalter Regen prasselt gegen das dunkle Fenster. Verdammt kalt und stürmisch ist es in dieser pechschwarzen Januarnacht, der ersten in diesem neuen Jahr.
Behäbig schwankt das riesige Schiff in der rauhen See, es ist 2:43 Uhr. Was das neue Jahr wohl bringen wird? Millenium nennen sie es überall, ist wohl lateinisch. Was wohl alles anders werden wird, was alles noch erfunden, in diesem neuen Zeitalter? Aber erstmal - das hat Noel gehört - solls ja ganz dicke kommen. Computer sollen abstürzen, Fahrstühle steckenbleiben, Strom ausfallen. Aber egal, sollen sich die Landratten doch von den Silvesterfeiern direkt ins Chaos stürzen. Hier, auf dem Supertanker haben wir unsere eigene Welt. Und keine Fahrstühle.

2:51 Uhr. Ein Blitz fährt durch die Nacht. Für einen Moment erahnt man die Silhouette der gewaltigen "Torpe Aziz" zwischen haushohen Brechern und wabernden Regenschwaden. Den Donner hört der junge Afrikaner nicht, er schläft tief und fest in seiner Koje. Die Geräuschkulisse nimmt er nicht mehr wahr. Donner, das dumpfe Rollen der Dieselmaschinen, die meterhohen Wasserberge, die gegen die Bordwand krachen. So sind sie, die Nächte auf See, das kennt er. Und überhaupt, als kleiner Maat auf einem Riesenpott muß man hart ran, da schläft man nachts durch. Und verdient kaum was dabei. Pech eben, wenn man auf so einem abgehalftertem Kahn anheuert, der wohlweislich unter südafrikanischer Flagge fährt.

2:57 Uhr. Stimmengewirr draußen vor den Quartieren. Noel wird wach. Schritte mehrerer Männer, aufgeregte Unterhaltung. Das ist ungewöhnlich, er steht auf.
Müde, aber neugierig. Was denn sei, will Noel in seinem gebrochenem Englisch wissen. Vom Kurs abgekommen wär er, der Saufkopp von Steuermann. 56 Seemeilen östlich von Sylt! Noel hält einen Moment inne, er hat nicht viel mitgekriegt von Geographie in der Schule. Ob das denn weit ab wär, traut er sich dann zu fragen. Ja, sehr weit, wenn man doch nach Rotterdam will. Die Aufregung in der Stimme des marokkanischen Kollegen ist nicht zu überhören. "Der Käptn und alle haben oben auf der Brücke Silvester gefeiert. Und keiner merkt, daß seit fast drei Stunden der Kurs nicht stimmt!"
Unwillkürlich fühlt Noel sich daran erinnert, was er über Computersysteme gehört hatte, die gleich am 1. Januar versagen würden. Sollte etwa auch hier...? "Es heißt, vor- und rückwärts könnten sie noch", reißt ihn der Marokkaner aus seinen Gedanken. "Aber die Steuerung und das Navigationssystem tuns nicht mehr, die können gar nichts machen...". Und jetzt? "Sie funken SOS." Notankern? Nein, zu stürmisch, keine Chance. "Wir werden irgendwo auf die deutsche Küste krachen! Kannst schon mal deine Weste holen."

Hamburg, Hafenbehörde, zur gleichen Zeit. Helle Aufregung in der Einsatzzentrale. Der Einsatzleiter steht inmitten von ein paar sektseligen Lokalpolitikern, die man auf diversen Parties noch aufgreifen konnte. "Ein Supertanker und zwei Containerschiffe haben SOS gemeldet. Treiben alle auf die Küsten zu." Plötzliche Nüchternheit beim Hamburger Verkehrsminister. Was man denn unternehme. "Die Rettungsschiffe sind längst raus, aber machen können die praktisch nichts, bei dem Sturm." Der Tanker wird bis zum Morgengrauen bei Föhr oder Amrum auf Grund gelaufen sein. Oder sogar bei Sylt.

1. Januar 2000, Nachmittag. Nachrichtensendungen überziehen reihenweise, Sondersendungen auf fast jedem Kanal. Berichte über vier Flugzeugabstürze, zwei notabgeschaltete Atomkraftwerke in der Ukraine, 127 Tote bei einem Hochhausbrand in den USA. Und die aktuelle Meldungen überstürzen sich.
Noel und seine Mannen konnten gerettet werden, doch die "Torpe Aziz" liegt vor Hallig Hooge auf Grund. Über 200.000 Liter Rohöl sind bereits ausgelaufen, weiß die Nachrichtensprecherin. Föhr, Amrum, Pellworm. Die Nordfriesischen Inseln werden Jahrzehnte brauchen. Auch Sylt ist betroffen. Schwarzer Schlamm auf feinen glitzernden Eisschollen. Gespenstischer Tod.

Heute, September 1999. In Deutschland wird heftig am sogenannten Millenium-Bug gewerkelt. Nach Studien von Gerling und der Industrie- und Handelskammer zu Köln haben rund 60 Prozent der Unternehmen ihre Hausaufgaben gemacht. 25 Prozent sind noch gefährdet und 15 Prozent haben noch gar nichts getan. Aber man gibt sich zufrieden. Auch nach dem 31.12. können wir noch Geld abheben, Bahn fahren und mit Handys rumklingeln. Das versichern uns die großen Konzerne.
Aber was ist mit dem betagten Fahrstuhl, Baujahr 77? Der uns schon seit Jahren ruckelnd aber sicher in den dritten Stock hievt? Das sind - auch im wachen Deutschland - die gern übersehenen "geringeren Risiken".
Schlimmer aber ist es in Ländern der dritten Welt, auch Rußland, China. Hier ist das Problem wegen der oft völlig veralteten Technik noch gravierender als bei uns. Doch ungleich weniger wird dort getan, das Problem ist oft nicht einmal bekannt. Welche Schreckensnachrichten der Januar für uns bereithält, vermag heute noch keiner zu sagen. Aber die meisten werden uns wohl aus den Ländern erreichen, die schon heute vom Pech gebeutelt sind.

W.M.

Y2K steht für "Year 2 Kilo". Kilo kursiert in Informatikerkreisen als Synonym für Tausend.

Die Geschichte ist nur auf den ersten Blick fiktiv. Eine Reederei testete ihre Containerschiffe auf den Y2K-Fehler, indem die Uhren in den Systemen vorgestellt wurden. Ergebnis: eins der Schiffe trieb stundenlang manövrierunfähig im Meer ...