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Ein Leben

Marcel Reich-Ranickis Autobiographie

Er ist Deutschlands bekanntester und bedeutendster Literaturkritiker. Seit 1988, mit dem Start der ZDF-Sendereihe "Literarisches Quartett", dürfte er auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein. Viele Zuschauer, die mit Literatur gar nichts im Sinn haben, schauen sich die Sendung trotzdem an, weil dort - eine Seltenheit im Fernsehen - anspruchsvoll und unterhaltsam gestritten wird.
Doch Marcel Reich-Ranicki ist nicht nur der geistige Vater dieser Sendung und ein herausragender Kritiker. Sein Leben spiegelt einen großen Teil der Geschichte Deutschlands und Europas in diesem Jahrhundert wider. Um so interessanter ist seine jetzt erschienene Autobiographie.
1920 wurde Marcel Reich als Sohn jüdischer Eltern in Polen geboren. Seine Mutter, die aus Deutschland stammte, stand stark unter dem kulturellen Einfluß ihres Heimatlandes. Sein Vater, ebenfalls gebildet, aber ein völlig untalentierter Kaufmann, erlitt 1929/30 wirtschaftlichen Schiffbruch, so daß die Familie notgedrungen von Polen nach Berlin umzog, wo wohlhabende Verwandte lebten.
Sehr schnell zeigte sich Reich-Ranickis Begabung für Deutsch und Literatur. Sachlich schildert der Autor verschiedene Berliner Gymnasien, seine Mitschüler, aber vor allem die langsam einsetzenden Judendiskriminierung nach 1933, und wie er immer mehr zum Außenseiter wurde. Seine "arischen" Schulfreunde schnitten ihn zwar nicht direkt, aber grenzten ihn doch aus - fast ungewollt, durch Wegsehen und den Einfluß der Hitlerjugend. Reich-Ranicki bemüht sich gerade hier um Fairneß.
Aber er verheimlicht auch nicht seine Narben. Auf einer Abiturfeier 25 Jahre danach, 1963, fragt er seine ehemaligen Klassenkameraden, warum sie denn für den Rassismus nicht anfällig gewesen seien. Die Antwort: "Wie konnten wir, wo der beste Hundert-Meter-Läufer und der beste Deutschschüler Juden waren?" Reich-Ranicki: "Ich war verblüfft, diese Antwort enttäuschte mich, ich fand sie lächerlich. Und wenn ich nicht der beste Deutschschüler gewesen wäre und mein Freund nicht einer der besten Läufer, dann hätte man uns schikanieren dürfen?"
1938 wurde er nach Polen deportiert. Damit beginnt der erschütterndste Teil des Buches: Das Überleben des Holocaust.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1939 wird das Warschauer Getto errichtet. Dort erhält Reich-Ranicki durch seine deutschen Sprachkenntnisse einen Posten im Judenrat, der "Stadtverwaltung" des Gettos. Es ist die Zeit des großen Mordens. Immer wieder werden Tausende von Juden auf den "Umschlagplatz" getrieben, von wo sie in den Tod fahren. Auch seine Eltern sieht er auf diesem Platz zum letzten Mal. Sie werden, wie fast seine ganze Familie, vergast.
Reich-Ranicki lernt im Getto unter grausigen Umständen ein Mädchen, Tosia, kennen: Ihr Vater hat sich gerade erhängt. Die beiden heiraten überhastet, als es heißt, daß außer bestimmten Mitarbeitern der Verwaltung und ihren Ehepartnern alle anderen Juden "umgesiedelt" (= umgebracht) werden sollen. Diese Ehe hält trotz mancher Belastung bis heute. Einige der schönsten Teile des Buches beziehen sich auf diese Beziehung.
Kurz vor dem Gettoaufstand, im Januar 1943, erwischt es aber auch Reich-Ranicki und seine Frau. Auf dem Weg zum Umschlagplatz können sie jedoch fliehen, und mit der Hilfe von Freunden gelingt es ihnen, aus dem Getto zu entkommen.
Die Wahrscheinlichkeit, im besetzten Polen zu überleben, das von Zuträgern, Spitzeln und Gestapo nur so wimmelt, ist verschwindend klein. Doch sie schaffen es, werden anderthalb Jahre bis zur Ankunft der Roten Armee versteckt. Der Mann heißt Bolek, seine Frau Genia, er ist einfacher Arbeiter. Die Verhältnisse sind schlimm, der Hunger gewaltig. Mangels anderer Unterhaltung erzählt Reich-Ranicki seinen Gastgebern an langen Abenden vereinfachte Geschichten aus der Literatur: Werther, Effi Briest, Jenni Treibel, Hamlet, König Lear und sogar Opernstoffe wie La Traviata.
Bolek geht ein ungeheures Risiko ein. Aber wenn er schwankend wird, bestärkt ihn sein Frau, durchzuhalten. Und er hat einen grimmigen Sportsgeist: "Adolf Hitler, Europas mächtigster Mann, hat beschlossen, daß die beiden sterben. Ich, ein kleiner Warschauer Setzer, habe beschlossen, daß sie leben. Mal sehen, wer siegen wird."
Nach Kriegsende wird Reich-Ranicki für den polnischen Geheimdienst nach London geschickt. Ausdrücklich verteidigt er diese Arbeit für sein Vaterland.
Später, noch nicht ganz desillusioniert, wird er Mitglied der kommunistischen Partei und beginnt, über die geliebte deutsche Literatur zu schreiben. Doch Reich-Ranicki (der sich seit der Londoner Zeit nur Ranicki nennt und seinen jetzigen Namen 1958 auf Vorschlag eines deutschen Journalisten annimmt) zieht es westwärts. Er will in die Bundesrepublik, das Kernland der deutschen Literatur. Und so flieht die Familie 1958 nach Deutschland.
Reich-Ranickis Stern steigt schnell. Er publiziert für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die "Welt" und schließlich, als Angestellter ohne redaktionelle Pflichten, für die "Zeit". 1974 holt ihn Joachim Fest zur FAZ, wo Reich-Ranicki den elitär-langweiligen Literaturteil zu einem Forum für die ganze Breite der Literatur umwandelt. Ihm wird grenzenlose Freiheit gewährt - um so bitterer für ihn, als die Freundschaft mit Fest Ende der achtziger Jahre anläßlich des "Historikerstreits" zerbrach.
Im Buch ist viel ist von Literatur die Rede - manchmal scheint es gar, als ob Reich-Ranicki das ganze Leben ausschließlich durch die Literaturbrille sieht, ja fast "literaturvergiftet" ist. Andererseits: Wäre er es nicht, hätte er dann seine unumstrittene Position erreichen können?
Warum hat er sie überhaupt erreicht? Die Frage stellt er sich auch und kommt ohne jede falsche Bescheidenheit zu dem Schluß, daß er immer für ein breites Publikum geschrieben habe. Germanistische Fachausdrücke vermied er, zudem ließ er durch bewußtes Übertreiben die Leser nie über seine Meinung im Ungewissen.
Als vor einigen Wochen Ignatz Bubis starb, verfaßte Marcel Reich-Ranicki einen bewegenden Nachruf in der FAZ. Vielleicht fühlte er sich dem verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland so nahe, weil sie sich ähnelten: Beide Autodidakten, beide hochintelligent, beide ohne Angst vor klaren Urteilen, beide wagemutig, beide im weitesten Sinne liberal, beide Überlebende des Holocaust, beide einsame Kämpfer für ihre Sache: Bubis für die Integration und Respektierung der deutschen Juden, Reich-Ranicki für die deutsche Literatur.
Dieses Buch ist uneingeschränkt empfehlenswert. Es ist stilistisch klar und hervorragend lesbar. Es beschreibt ein Leben (und eine Ehe) schnörkellos und temperamentvoll. Und es erfüllt das laut Marcel Reich-Ranicki wichtigste Kriterium guter Bücher: Es ist nie langweilig. G.D.