Politik

Überflugstörungen

Das Frühstücksritual vieler Bundesbürger hat in den letzten Wochen ein wenig gelitten. Früher war alles ganz einfach: Aufstehen, Kaffe kochen und die Zeitung überfliegen, was sich so alles getan hat, ob Jürgen Trittin noch im Amt ist oder der Bundeskanzler den Couturier (oder die Ehefrau) gewechselt hat. Eben die wichtigen Dinge in der Welt.

Seit neuestem (genauer: seit dem 2.8.1999) habe ich Probleme, bessergesagt (Über-)Flugstörungen. Denn seit diesem Zeitpunkt haben die Medien (alle gleichzeitig - was sagt eigentlich das Kartellamt dazu?) die reformierte Rechtschreibung eingeführt. Die sorgt dafür, daß die Fluggeschwindigkeit rapide gesunken ist.
Die regelmäßigen Zeitungsleser haben es alle bemerkt: Das "ß" führt nur noch ein Schattendasein, nachdem es seinen alten Job als scharfes "s" nach kurzen Vokalen an "ss" abtreten mußte. Fremdwörter werden noch fremder ("Fassette", "Schikoree"), groteske Getrenntschreibungen verbergen erfolgreich den Sinnzusammenhang, manches ist schlicht falsch ("Es tut mir Leid"), und unlogische, aber liebgewonnene Trennregeln sind ebenfalls auf dem Abfallhaufen gelandet: dem "st" tut das Trennen nicht mehr weh, ja es lechzt geradezu danach.
Manche Neuschreibungen basieren auf ausgesprochen gewagten Ideen. So kommt der "Tollpatsch", dem man ein weiteres "l" spendiert hat, zwar nicht von "toll", ebensowenig wie "verbläuen" von "blau", aber man tut so als ob. Das ganze nennt sich Volksetymologie und ist zweifellos progressiv. Nur richtig ist es nicht.
Die postreformatorische Regelung der Fremdwörterschreibung ist endgültig unverständlich geworden: Warum nur "Ketschup" (statt "Ketchup") und nicht gleich "Kätschapp"? Aber erstaunlicherweise sind viele wissenschaftliche Termini unbehelligt geblieben. Da wollten sich die Experten wohl nicht dem Spott der Kollegen "Filologen" aussetzen, der ja bekanntlich besonders weh tut (wehtut? Weh tut? O weh!).
Wird Deutsch schreiben einfacher? Kaum! Die Logik der Rechtschreibung hat nur wenig zugenommen, man wird auch weiterhin nur durch stetiges Üben, also Lesen und Schreiben, halbwegs fit bleiben. Die Idee hinter der Reform ist fragwürdig. Das Lernen eines schwierigen Stoffes erfordert gute Lehrmethoden und keine Mogelei am Stoff selbst.
Allzu düster ist die Zukunft aber keineswegs, denn die tägliche, evolutionäre Veränderung der Sprache wird hoffentlich auch die jetzt reformierte Schriftsprache wandeln und die gröbsten Dummheiten der Reformer langsam abschleifen. Besonders wenn sich der schreibende Teil der Gesellschaft dem dekretierten Reformmonstrum nicht sogleich beugt.
So daß man in Zukunft vielleicht wieder entspannt Kaffe überfliegen und die Zeitung trinken kann. Ohne Störungen.