Wen haben wir uns da nur angelacht? Was haben wir da für einen Vormann des rot-grünen Projekts? Sein Autotick mag ja eine niedersächsische Lokalmarotte sein. Aber - und das dürfte die deutsche Linke inzwischen weit mehr quälen - ist Gerhard Schröder überhaupt links? Noch provokanter gefragt: Ist er wenigstens linker als sein Vorgänger?
Die den Grünen nahestehende, immer noch existierende alternative "tageszeitung" (taz) hat sich jüngst Schröders Kosovo-Reise angenommen und unter der Überschrift "Stille Sehnsucht nach Helmut Kohl" (!) das Verhalten des Kanzlers analysiert. Im Ergebnis hatte der Autor Mühe, Schröders guten Willen herauszustreichen. Auszüge (Quelle: Internet): Gerhard Schröder hat Ende letzter Woche im Kosovo das Richtige getan - und das Falsche gesagt. (...) Vor allem aber hat Schröder zwei bemerkenswerte Interpretationen der Rolle Deutschlands im Kosovo-Krieg geäußert. Der Bundeswehr-Einsatz sei geeignet, die historische Schuld "wenn nicht vergessen, dann doch verblassen" zu lassen. (...)
Warum ist Schröder so, wie er ist? Die taz kommt bei ihrem Erklärungsversuch zu einem ziemlich erstaunlichen, aber nicht unplausiblen Ergebnis: Gerhard Schröder ist kein Deutschnationaler. Seine Ideologien heißen Pragmatismus und Machbarkeit. Seine Mißachtung der Geschichte speist sich nicht aus dem Wunsch, die Nazizeit zu relativieren, um nationale Werte wiederzubeleben. Seine Ignoranz der Historie gegenüber sitzt tiefer. Es ist die Verachtung des Parvenues, der die eigene Herkunft geringschätzt, für alles Geschichtliche. Für ihn existiert kein Bewußtsein des Wertes von Traditionen, für ihn zählt nur der Erfolg in der Gegenwart. Insofern ist er genau der Kanzler, den diese Gesellschaft verdient. Das hätte auch aus der Feder eines Stockkonservativen stammen können.
Hätte die Union die Wahl im September gewonnen und hätte der schneidige Volker Rühe im Kosovo gesagt, was Schröder sagte - SPD und Grüne hätten kopf gestanden, die liberale Presse wäre empört gewesen, und alle guten Menschen hätten die plumpen konservativen Normalisierungsversuche gegeißelt. Rot-Grün gilt in moralischen und vergangenheitspolitischen Fragen noch immer als per se unverdächtig, deshalb ist die öffentliche Wahrnehmungsschwelle hoch. Doch die kritische Öffentlichkeit täte gut daran, sich langsam mit den neuen Frontverläufen vertraut zu machen: Das alte Schema: links gleich moralisch, antifaschistisch - rechts gleich machtorientiert und verdächtig, Nazivergangenheit zu verharmlosen, ist von gestern. Schröder - nicht Kohl, dessen politisches Koordinatensystem aus der Nachkriegszeit stammte - ist dabei, die endgültige Normalisierung Deutschlands durchzusetzen.
Bingo! Was wir schon immer dachten, aber niemals zu schreiben wagten ... Na ja, fast.
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