Editorial

Ein Kanzler ohne Vergangenheit?

Der Linken wird es langsam mulmig

Wen haben wir uns da nur angelacht? Was haben wir da für einen Vormann des rot-grünen Projekts? Sein Autotick mag ja eine niedersächsische Lokalmarotte sein. Aber - und das dürfte die deutsche Linke inzwischen weit mehr quälen - ist Gerhard Schröder überhaupt links? Noch provokanter gefragt: Ist er wenigstens linker als sein Vorgänger?
Die den Grünen nahestehende, immer noch existierende alternative "tageszeitung" (taz) hat sich jüngst Schröders Kosovo-Reise angenommen und unter der Überschrift "Stille Sehnsucht nach Helmut Kohl" (!) das Verhalten des Kanzlers analysiert. Im Ergebnis hatte der Autor Mühe, Schröders guten Willen herauszustreichen. Auszüge (Quelle: Internet):

Gerhard Schröder hat Ende letzter Woche im Kosovo das Richtige getan - und das Falsche gesagt. (...) Vor allem aber hat Schröder zwei bemerkenswerte Interpretationen der Rolle Deutschlands im Kosovo-Krieg geäußert. Der Bundeswehr-Einsatz sei geeignet, die historische Schuld "wenn nicht vergessen, dann doch verblassen" zu lassen. (...)
[Es] fragt sich, ob Schröders Aufrechnung der guten Gegenwart gegen die böse Vergangenheit statthaft ist. Denn der Horizont dieses schlichten Satzes heißt ja: Man kann den Terror der Nazis, der Hunderttausenden in den 40ern das Leben gekostet hat, gegen den Bundeswehreinsatz verrechnen.
Das verrät nicht nur historische Ignoranz, es setzt nebenbei auch die KFOR-Beteiligung der Bundeswehr in ein trübes Licht. Ist die Bundeswehr etwa im Kosovo, um das in der Region seit der Nazizeit lädierte Bild Deutschlands aufzuhellen? Eine Art Imagepflege also? Nein, so meint Schröder es natürlich nicht.
Aber daß diese Interpretation möglich ist, ist Ergebnis des neuen, auftrumpfenden, geschichtsvergessenen Tons, den der Kanzler so gerne anschlägt.

Warum ist Schröder so, wie er ist? Die taz kommt bei ihrem Erklärungsversuch zu einem ziemlich erstaunlichen, aber nicht unplausiblen Ergebnis:

Gerhard Schröder ist kein Deutschnationaler. Seine Ideologien heißen Pragmatismus und Machbarkeit. Seine Mißachtung der Geschichte speist sich nicht aus dem Wunsch, die Nazizeit zu relativieren, um nationale Werte wiederzubeleben. Seine Ignoranz der Historie gegenüber sitzt tiefer. Es ist die Verachtung des Parvenues, der die eigene Herkunft geringschätzt, für alles Geschichtliche. Für ihn existiert kein Bewußtsein des Wertes von Traditionen, für ihn zählt nur der Erfolg in der Gegenwart. Insofern ist er genau der Kanzler, den diese Gesellschaft verdient.

Das hätte auch aus der Feder eines Stockkonservativen stammen können.
Geschichte bedeutet ja nicht nur irgend etwas Vergangenes, was man aus trockenen Büchern lernen muß, sondern ist der Schlüssel für die Zukunft. Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, die deutsch-französischen Beziehungen mehr sein müssen als reine Nachbarschaft, warum sie politisch, strategisch und psychologisch so eminent wichtig sind - das begreift man nur aus der Geschichte. Es verwundert nicht, daß Schröder diese Beziehungen nun fast demonstrativ schleifen läßt. Ärgerlich daran ist, daß er diesen Fehler über kurz oder lang wird korrigieren müssen - und das wird dauern.
Zurück zur taz, deren erstaunliche Erkenntnisse über unseren Kanzler und die Linke generell in den Zeiten des Kosovo-Konfliktes noch keineswegs erschöpft sind:

Hätte die Union die Wahl im September gewonnen und hätte der schneidige Volker Rühe im Kosovo gesagt, was Schröder sagte - SPD und Grüne hätten kopf gestanden, die liberale Presse wäre empört gewesen, und alle guten Menschen hätten die plumpen konservativen Normalisierungsversuche gegeißelt. Rot-Grün gilt in moralischen und vergangenheitspolitischen Fragen noch immer als per se unverdächtig, deshalb ist die öffentliche Wahrnehmungsschwelle hoch. Doch die kritische Öffentlichkeit täte gut daran, sich langsam mit den neuen Frontverläufen vertraut zu machen: Das alte Schema: links gleich moralisch, antifaschistisch - rechts gleich machtorientiert und verdächtig, Nazivergangenheit zu verharmlosen, ist von gestern. Schröder - nicht Kohl, dessen politisches Koordinatensystem aus der Nachkriegszeit stammte - ist dabei, die endgültige Normalisierung Deutschlands durchzusetzen.
Angesichts des naßforschen Auftretens des Kanzlers mag mancher durchaus eine stille Sehnsucht nach Helmut Kohl empfinden.

Bingo! Was wir schon immer dachten, aber niemals zu schreiben wagten ... Na ja, fast.
Zu den höchsten Gipfeln der Erkenntnis ist auch die taz nicht aufgestiegen. Denn "das alte Schema" hat es so nie gegeben, höchstens in den Köpfen der Linken. Man muß nur an die stramm neutralistisch-nationale SPD der 50er Jahre denken oder an Konrad Adenauer, der die Bundesrepublik Deutschland nicht nur im Westen verankerte, sondern auch mit den schlimmsten Feinden des Zweiten Weltkrieges versöhnte. Selbst die Wiedergutmachung mit Israel fällt in seine Regierungszeit. Aber solche Feinheiten sind alle schon Geschichte. Und damit hapert es ja offenbar nicht nur beim Kanzler.