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Buchbesprechung

Demokratisches Rußland?
Ein Bürgerrechtler berichtet

Die Rolle Rußlands im Konflikt um das Kosovo ist nicht zu unterschätzen. Milosevic wäre sicher nicht so weit gegangen, wenn sich auch Rußland von Anfang an gegen den sich abzeichnenden Völkermord an den Albanern gewandt hätte. Doch stattdessen sahen die Politiker an der Moskwa in den Bemühungen der NATO lieber eine Aggression des Westens gegen die slawischen und orthodoxen Mitbrüder in Serbien. Außerdem hat man noch den eigenen Krieg gegen die (wie die Albaner ebenfalls muslimischen) Tschetschenen in Erinnerung.
Doch nicht nur von den Politikern, auch von "normalen" russischen Staatsbürgern konnte man in den Medien äußerst NATO-kritische Kommentare vernehmen. Schon melden sich Russen, die als Freiwillige Milosevic im Kampf gegen den Westen unterstützen wollen. Es stellt sich daher die Frage, welchen Stellenwert Menschenrechte und Demokratie in Rußland seit dem Zerfall der Sowjetunion bekommen haben.


Absolutheitsanspruch

Eine sehr interessante Analyse dieser Frage bietet das Buch "Der Flug des weißen Raben, Von Sibirien nach Tschetschenien: Eine Lebensreise" von Sergej Kowaljow. Der Autor, dem ein oder anderen sicherlich noch als Vermittler im Tschetschenien-Konflikt in Erinnerung, entstammt der Bürgerrechtsbewegung Rußlands der sechziger und siebziger Jahre.
Im ersten Kapitel beschreibt er, wie er schon als Kind und später als Wissenschaftler an der Universität seine Probleme mit dem Absolutheitsanspruch des Sowjetstaats hatte. Interessanterweise sieht sich Kowaljow dabei nicht als jemand, der grundsätzlich etwas gegen den Kommunismus einzuwenden hatte. Vielmehr störte ihn, wie die Wahrheit oft ignoriert wurde, ganz nach dem Motto: "Die Partei hat immer recht." Dies führte sogar soweit, daß in der sowjetischen Forschung über bestimmte Theorien, wie zum Beispiel die in Fachkreisen schon lange anerkannte Mendelsche Vererbungslehre und die moderne Genetik, jahrelang praktisch ein Denkverbot herrschte.


Anti-Kommunisten?

Auch die sich langsam formierende Dissidentenbewegung war anfangs ein ziemlich unorganisiertes Grüppchen, was alles andere als den Sturz des Regimes im Sinn hatte. Vielmehr handelte es sich dabei um zumeist gesetzestreue Sowjetbürger, die für sich und ihre Freunde aus der "Intelligenzija" nur die Rechte in Anspruch nehmen wollten, die ihnen nach Gesetz und Verfassung zustanden. Bald aber zeigte sich, in welchem Ausmaß die Staatsmacht die Rechte ihrer Bürger mißachtete. Dies führte zur Geburt der "Chronik der laufenden Ereignisse", die diese Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Wegen der Mitarbeit an diesem Erzeugnis der Untergrund-Presse wurde Kowaljow schließlich zu sieben Jahren Lagerhaft und drei Jahren Verbannung verurteilt. Von diesem Lebensabschnitt erwähnt der Bürgerrechtler in seinem Buch jedoch nur sehr wenig.
Die Beschreibung von Kowaljows Lebensreise setzt bei seiner Rückkehr nach Moskau wieder ein. Als sich im Zuge von Glasnost und Perestrojka freie Wahlen abzeichneten, trat er 1990 auf Anraten seines engen Freundes Andrej Sacharow für einen Sitz im Obersten Sowjet der Russischen Republik an. Und er gewann in seinem Wahlkreis schon in der ersten Runden die absolute Mehrheit. Es ist bekannt, daß in den russischen Parlamenten der neunziger Jahre die Demokraten nicht über die wünschenswerten Mehrheitsverhältnisse verfügen bzw. verfügten. Dennoch konnten Leute wie Kowaljow in Menschenrechtsfragen einiges bewegen.


Berater Jelzins

"Der Flug des weißen Raben" beschreibt eingehend das Verhältnis zwischen Kowaljow und Boris Jelzin. Zunächst gehörte der Bürgerrechtler zu den entschiedensten Unterstützern des russischen Präsidenten, insbesondere im Machtkampf mit Michail Gorbatschow. Als Menschenrechtsbeauftragter wurde er sogar Mitglied im Präsidialapparat.
Das Verhältnis zerbrach dann aber, als sich im Zuge des Tschetschenien-Konflikts der Unterschied zwischen Theorie und Praxis zeigte. Für das Ausland sollte er als Ex-Dissident russische Delegationen bei internationalen Ereignissen leiten, im Inland gewannen dagegen politische Strömungen die Überhand, die mit Kowaljows Positionen wenig gemein hatten.


Fazit

Für zeitgeschichtlich und politisch Interessierte bietet das Kowaljow-Buch einerseits einen interessanten Mosaikstein im eigenen Bild über die untergegangene Sowjetunion. Andererseits gibt es auch viele wichtige Anhaltspunkte zur Einschätzung der derzeitigen politischen Lage in Rußland. Sehr lesenswert!

Sergej Kowaljow: Der Flug des weißen Raben. Von Sibirien nach Tschetschenien: Eine Lebensreise, Rowohlt, 1997, 248 Seiten, ISBN 3-87134-256-4.

M.W.