Politik

Erosion eines Systems

DAS ENDE DES FLÄCHENTARIFVERTRAGS IN SICHT?

Einer der vielen hehren Ansprüche, welche die neue Bundesregierung innerhalb ihrer Anhängerschaft zu schüren wußte, war der, daß es bei künftigen Tarifabschlüssen ein Ende mit dem haben müsse, was man bis dato unter der neuen Bescheidenheit" verstand.
Getreu dem, was der SPD-Bundesvorsitzende und neue Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine nur zu gerne der bundesdeutschen Offentlichkeit weiszumachen versucht, daß es eben nur einer Stärkung der Kaufkraft bedürfe, indem man dem Verbraucher mehr Geld in die Hand gebe, und schon würde ob der erhöhten Binnennachfrage die Konjunktur anspringen und damit automatisch neue Arbeitsplätze entstehen.

8 Millionen für Politikwechsel

Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften, denen im Vorfeld der Bundestagswahl die Kampagne für einen Politikwechsel in Deutschland mal eben acht Millionen DM aus ihrer Beitragskasse wert war.
Unter dem Motto, daß nunmehr der berühmte "Schluck aus der Pulle" angesagt sei, forderte die Industriegewerkschaft Metall, in deren Tarifbezirk Nordwürttemberg-Baden die diesjährige Lohnrunde eröffnet wurde, gleich eine Lohnsteigerung von 6,5 Prozent. Bei den Tarifverhandlungen bewegte sich lange Zeit nichts. Schließlich drohte die Situation gar zu eskalieren, nach den ersten Warnstreiks wurde die Schlichtung angerufen.
Als Schlichter wurde ausgerechnet der ehemalige SPD-Vorsitzende und gescheiterte Bundeskanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel bemüht. Dieser verkörpert mit seiner biederen Person von Stil und Charakter so ziemlich das Gegenteil dessen, was so schillernde Persönlichkeiten wie Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Lafontaine darstellen.

Schröder: Keiner meckert

Dennoch oder gerade deswegen war die Rolle von Hans-Jochen Vogel für die Regierung Schröder besonders wichtig, und er war mit seiner Aufgabe quasi zum Erfolg verdammt. Ein Scheitern der Tarifverhandlungen hätte das von Kanzler Schröder zur Chefsache erhobene Bündnis für Arbeit in Frage gestellt.
Vor diesem Hintergrund ließ es der Kanzler auch nicht an entsprechenden Appellen an die Tarifparteien fehlen. Derartige Äußerungen wären einem Bundeskanzler Kohl sofort als Eingriff in die Tarifautonomie angekreidet worden. Auf derartige Kritik wartete man diesmal jedoch vergebens.

DGB: Mitarbeiter müssen bluten

Aber der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dem auch die Industriegewerkschaft Metall als Mitgliedsverband angehört, bot seinen 900 Beschäftigten im Organisationsbereich unterdessen selbst gerade einmal 1,5 Prozent Gehaltserhöhung an, während ihre Mitgliedsgewerkschaft im Südwesten Deutschlands versuchte, ihre 6,5 Prozent Forderung durchzufechten.
Denn trotz beträchtlichen Stellenabbaus fehlen dem DGB in seinen nicht zuletzt aufgrund des Mitgliederschwunds notorisch klammen Kassen eben auch jene acht Millionen DM, die man für die Kampagne für einen wie auch immer gemeinten Politikwechsel aufgewendet hatte.
Aber von einer Stärkung der Binnennachfrage will auch Finanzminister Lafontaine dann nichts mehr wissen, wenn es um die Besoldung derer geht, die aus seiner Schatulle bezahlt werden müssen. Also die Beamten, Angestellten und Arbeiter im Bundesdienst.

Keine Produktivitätszuwächse?

Lafontaine begründet dies mit fehlenden Produktionszuwächsen, von denen in der öffentlichen Verwaltung nun einmal nicht die Rede sein könne. Mit diesem Argument kann man freilich ganze Bevölkerungskreise von der allgemeinen Einkommensentwicklung bis in alle Ewigkeit abkoppeln.
Ob denn nun dem in einem zweitägigen Verhandlungsmarathon im frühmorgendlichen Böblingen erzielte Tarifabschluß tatsächlich das Etikett eines Pilotabschlusses zuerkannt werden kann, muß sich erst noch erweisen.
Denn im Südwesten der Bundesrepublik sind vornehmlich jene Betriebe der Metallindustrie angesiedelt, die von der Ertragslage her noch am besten dastehen. Die Vorgabe lautet 3,2 Prozent Erhöhung der Löhne und Gehälter bei einer Einmalzahlung von 350 DM für die Monate Januar und Februar 1999 sowie einer einmaligen Zuwendung in Höhe von 1 Prozent des Jahreseinkommens.
Insgesamt wird dadurch eine Steigerung von 4,2 Prozent erzielt, die, bezogen auf die Laufzeit des neuen Tarifvertrages bis Ende Februar kommenden Jahres gesehen, sich auf 3,6 Prozent beläuft.
Aber gerade damit wollen sich die Metallarbeitgeber in den anderen Tarifbezirken und insbesondere in denen der neuen Bundesländer nicht abfinden. Die Industriegewerkschaft Metall beharrt jedoch auf die bundesweite Ubernahme des Tarifabschlusses. Mit der Folge, daß allein in Nordrhein-Westfalen bereits die ersten Firmen aus dem Arbeitgeberverband der Metallindustrie austreten.

Erste Austritte

Damit setzt sich die Erosion des Flächentarifvertrages weiter fort. Das wissen auch die Gewerkschaften, die solche Austritte prompt als generelle Kampfansage werten. Wen wundert's, ein Ende des Systems der Flächentarifverträge könnte auch die Frage nach dem Sinn und Zweck von Gewerkschaften aufwerfen.
Unter Umständen vielleicht sogar schneller, als manch einer heute noch zu glauben vermag.