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Die verratene Republik

Spannend, frustrierend, erhellend: Zwei Bücher eines längst verstorbenen SPD-Politikers

Er vermisse, so Roman Herzog auf seiner Ansprache zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar, den Beitrag der Jugend zu der Debatte um die deutsche Vergangenheit und ihre Bewältigung.

Recht hat er. Das Problem liegt bei Jugendlichen wie bei den meisten Bundesbürgern aber nun mal darin, daß es nichts zum Erinnern gibt, nur Erzählungen und Literatur. Außerdem ist es auf die Dauer höchst unbefriedigend, zwar über das "Dritte Reich" und seine Verbrechen aufgeklärt zu werden, aber nicht, wie es überhaupt dazu kommen konnte - warum Millionen von Demokraten einfach klein beigaben.
Zeitsprung: Wir schreiben das Jahr 1934. Der Parteivorstand der längst verbotenen SPD lebt, als "Sopade" firmierend, im Exil in Prag. Mit seiner Unterstützung schreibt der ehemalige Reichstags- und bayerische Landtagsabgeordnete Wilhelm Hoegner eine "Geschichte der deutschen Gegenrevolution".
Doch das Werk des anerkannten Juristen und leidenschaftlichen Hitler-Feindes paßt der Sopade nicht in den Kram. Hoegner beschränkt sich nämlich nicht nur auf die detaillierte Beschreibung, wie die Republik von rechts zerstört wurde, sondern spart auch nicht mit Kritik an den Demokraten der Weimarer Republik und ihrer Schwäche. Zwangsläufig trifft er damit natürlich auch seine eigene Partei.
Erst 1957, nachdem Hoegner von seiner zweiten Amtszeit als bayerischer Ministerpräsident zurücktritt (die CSU hatte nicht immer die absolute Mehrheit!), veröffentlicht er - unverändert - sein Manuskript von 1934 unter dem Titel "Die verratene Republik".
Weitere Enttäuschungen dieser Art bleiben nicht aus. 1937 verfaßt Hoegner den Bericht "Flucht vor Hitler", in dem er hautnah, aus seiner eigenen Perspektive als SPD-Reichstagsabgeordneter, die letzten drei Jahre der Weimarer Republik schildert. Der Bericht endet mit seiner Flucht nach Österreich, nachdem längst ein Haftbefehl gegen ihn in Kraft ist. Den Schweizer Sozialdemokraten ist Hoegners Manuskript jedoch zu offenherzig, zu selbstkritisch. So wurde auch dieses äußerst spannende und lesenswerte Buch erst nach Kriegende veröffentlicht.
Beide Bücher mögen inzwischen in einigen Punkten von der modernen Geschichtswissenschaft überholt sein. Doch sie sind viel lebensnaher, viel spannender als die meisten Geschichtsbücher. Das Geschehen ist bei ihrer Entstehung erst einige Jahre her; die Interpretation der Historiker hat noch nicht begonnen; fast alle Hauptpersonen leben noch.
In "Die verratene Republik" konzentriert sich Hoegner vor allem auf den Aufstieg des Nationalsozialismus. Dafür ist er ganz besonders kompetent, denn er gehörte als junger bayerischer Landtagsabgeordneter 1924 zum parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der den "Hitlerputsch" vom November 1923 untersuchte. Dabei gerät seine Darstellung zu einer Schilderung des breiten Spektrums der staatsverneinenden Rechten der Weimarer Republik. Dem Leser von heute wird immer klarer, daß die NSDAP und ihr "Führer" keineswegs vom Himmel fielen; sie konnten auf mächtigen rechten antirepublikanischen Zeitströmungen aufsetzen.
Als Jurist beschäftigt sich Hoegner auch mit der Justiz der Weimarer Republik. Hier bedauert er ganz besonders, daß die Sozialdemokraten 1919, als sie die Macht dazu hatten, einen klaren Trennungsstrich zum Kaiserreich nicht zu ziehen wagten. Die Ungleichbehandlung von rechten und linken Straftaten trieb fast unfaßbare Blüten und gipfelte im berüchtigten Hochverratsprozeß gegen Hitler, in dem der vorsitzende Richter den "Angeklagten" den Gerichtssaal in eine Schaubühne verwandeln ließ. Auch die Schonung der Nazis durch die bayerischen Behörden, vor allem die nicht erfolgte Abschiebung Hitlers nach Österreich, die rechtlich geboten gewesen wäre, bedauert Hoegner zutiefst.
Noch eindringlicher, noch mahnender für spätere Generationen ist "Flucht vor Hitler". Es beschreibt die wohl qualvollste Periode, die die SPD jemals in einem Parlament durchzustehen hatte. Über die längste Zeit hinweg war die Partei gezwungen, die von ihr eigentlich zutiefst abgelehnte Politik des Reichskanzlers Heinrich Brüning mitzutragen, weil es keine akzeptable Alternative gab.
Hoegner mischt seine eigenen Erlebnisse mit der Berliner Politik und allgemeinen Überlegungen zu einer außerordentlich lesenswerten Schrift. Packend schildert er die Atmosphäre während der Monate der Machtergreifung; wie eine eingeschüchterte und verängstigte SPD-Fraktion trotzdem Nein zum Ermächtigungsgesetz sagt; wie weite Teile der Partei selbst während der Verfolgung immer noch glauben, der Spuk gehe bald vorüber; wie die SPD während Hitlers "Friedensrede" im Reichstag im Mai 1933 noch einmal Hoffnung schöpft; oder wie vor der letzten Sitzung des bayerischen Landtags ein aus Dachau entlassener Landtagsabgeordneter seinen Fraktionskollegen seine Folterspuren zeigt.
Vor allem jedoch beklagt Hoegner die vielen ausgelassenen Chancen, Hitler zu stoppen. Er läßt Entschuldigungen nicht gelten. Die Demokraten waren auch am 30. Januar 1933 eine gewaltige Macht in Deutschland. Doch ihre führende Partei, die SPD, hatte Angst, für die Republik zu kämpfen. Sie war, so Hoegner, immer noch eine klassische Parlamentspartei mit einem fatalen Hang zur Opposition. Ihre Führer, entweder abgehobene Intellektuelle oder einfach gestrickte Gewerkschafter, waren der Situation nicht gewachsen.
Am Schluß des Buches beschreibt der Autor, der als "Anti-Nazi-Spezialist" der SPD natürlich besonders gefährdet war, seine dramatische Flucht nach Österreich, von wo er bald in die Schweiz weiterreiste. Seine beiden Bücher belegen Freiheitsliebe, politischen Scharfblick und ein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsempfinden. Für das Verständnis des Versagens der ersten deutschen Republik sind sie eine äußerst wichtige und lehrreiche Lektüre.