Editorial

Vor die Wand gelaufen

Rot-grünes Chaos - oder doch nicht?

Das Trauerspiel um den nun verschobenen Ausstieg aus der atomaren Wiederaufbereitung läßt einmal mehr die neue Bundesregierung der drittgrößten Industrienation in einem seltsamen Licht erscheinen und ist der (vorerst) letzte Akt chaotischer deutscher Bundespolitik. Was war geschehen?
Daß der Ausstieg aus der Stromgewinnung durch Kernspaltung festes Ziel der neuen Regierungskoalition war, stand schon vor der Wahl fest. Einzig der Zeitpunkt des Ausstiegs war und ist strittig. Während grüne Umweltpolitiker lieber schon gestern aus dem "atomaren Wahnsinn" ausgestiegen wären, bremste Bundeskanzler Gerhard Schröder die Erwartungen der Grünen schon von Anfang an. Sozialverträglich und energiepolitisch sinnvoll solle der Ausstieg sein. Man wolle den Stromkonzernen lange Übergangsfristen einräumen, um nicht in den Verdacht zu kommen technologiefeindlich zu sein.

Vorgeprescht

Bundesumweltminister Trittin hatte da wohl offensichtlich seine eigenen Ansichten. Noch vor einem generellen Ausstieg aus der atomaren Stromproduktion solle die Wiederaufbereitung atomarer Brennstäbe verboten werden.
Bei der Wiederaufbereitung werden "verbrauchte" Brennstäbe mit frischen Uran angereichert und können so wiederverwendet werden. Die Kosten dafür sind immens hoch, und die Umwelt bleibt in der Umgebung der beiden Firmen in Großbritannien und Frankreich auf der Strecke. Nebenbei entsteht waffenfähiges, ultragiftiges Plutonium.
Die Probleme, die sich Trittin mit seiner Initiative einhandelte sind vielfältig. Zum einen waren die Wiederaufbereitungsfirmen über die drohende fristlose Kündigung der Verträge erbost und drohten mit milliardenschweren Schadensersatzforderungen. Zum anderen stellten sich die deutschen Stromkonzerne quer, denn die wußten auf einmal nicht mehr wohin mit dem Müll. Der Müll, der durch die Wiederaufbereitung vermieden worden wäre, kann in kein Endlager gebracht werden, denn zur Zeit existiert in Deutschland keines. Zwischenlager in den Kraftwerken existieren (noch) nicht in ausreichender Zahl. So wäre nur der Weg nach Gorleben und Ahaus offen geblieben. Die betroffenen Landesregierungen drohten mit Ablehnung, so daß Trittin in die wenig beneidenswerte Lage gekommen wäre, Castor-Transporte anordnen zu müssen. Eine wahrlich absurde Vorstellung. Wieder hätte die Polizei die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.

Trittin zurückgepfiffen

So pfiff Gerhard Schröder seinen Umweltminister zurück, damit einvernehmliche Verhandlungen mit der Atomindustrie nicht durch vollendete Tatsachen unmöglich gemacht würden. Was bleibt, ist der Schaden, den Trittin im Ausland angerichtet hat. So richtig der Ausstieg auch sein mag, so sollte er doch einvernehmlich geschehen. Da bringt es auch nichts, daß Trittin oberlehrerhaft den traditionell atomfreundlichen Franzosen empfiehlt, möglichst auch aus der atomaren Stromgewinnung auszusteigen.
Weiteres Trauerspiel ist der Dauerzankapfel "ökologische Steuerreform". Wie bei quasi allen Entscheidungen preschte ein- ums andere Mal ein Regierungsmitglied des kleineren Koalitionspartners nach vorne und wurde von der SPD zurückgepfiffen.
So nahm Schröder dem grünen Wunschtraum "5 DM pro Liter Benzin" schon am Wahlabend den Wind aus den Segeln, als er ankündigte, höchstens 6 Pfennig draufzuschlagen. Auch hier liefen die Grünen vor eine Wand. Was dann hinterher als "ökologische Steuerreform" herauskam, ist gelinde gesagt ein Witz. Die energieintensiven Industrien werden auf Druck der SPD (vorerst) ausgeklammert, um keine Standortnachteile zu schaffen. Ebenso bleibt Flugbenzin billig. Nur die Autofahrer und, man höre und staune, die Deutsche Bahn müssen draufzahlen.
Daß nebenbei fast alle Verbraucher die Zeche zahlen müssen, braucht nicht erwähnt zu werden. Denn für die Finanzierung der Steuerreform hätte die Mineralölsteuer deutlicher angehoben werden müssen. Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend. Durch die familienfreundliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fehlen Bundesfinanzminister Lafontaine nun etwa 20 Milliarden. Wahrscheinlich wird das Benzin nun doch deutlich teurer.
Als Ausgleich der Steuerreform sollten die Lohnnebenkosten sinken. Nur haben weder Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger noch Rentner irgendwas davon. Sie zahlen dafür noch mehr für Energie. Wahrlich ökologisch sinnvoll und sozial gerecht. Noch vor 6 Monaten wäre ein Aufschrei der Empörung durch die Republik gegangen, und man hätte der alten Koalition Lobbyismus und soziale Kälte vorgeworfen.
Das alles könnte man nun als unorganisiertes Chaos deuten - vielleicht haben die Grünen aber auch eingesehen, daß sie als Koalitionspartner nicht unersetzlich sind. Die FDP steht bereit. So kann man sich nicht alles erlauben. Die Grünen nahmen die Verschiebung des Ausstiegs aus der atomaren Wiederaufbereitung seltsam still zur Kenntnis. Vielleicht hatte man sich vom Traum verabschiedet, dem Wähler schon in den ersten 100 Tagen spektakuläre Entscheidungen zu präsentieren.
So könnte das alles auch ein großer Schwindel sein, um grüne Wähler zu beruhigen. Frei nach dem Motto "Wir haben es versucht, sind aber gescheitert" wäre alles nur heiße Luft. Umweltschutz demonstriert, die Wirtschaft geschont. So hat auch die neue Bundesregierung endlich gelernt, Realitäten und wirtschaftspolitische Zwänge zur Kenntnis zu nehmen, und die Grünen sind auch endlich eine "normale" Partei.

MiWi