Editorial

Wahltag ist Zahltag

Unser Pseudo-Kanzler und sein Superminister

Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt hierfür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung.
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 65

Mit diesen klaren Worten definiert das Grundgesetz die Stellung des Bundeskanzlers. Er ist der Boß, kann zwar nicht tun und lassen, was er will, aber die Minister sind ihm eindeutig nachgeordnet.
Soweit die Theorie. In unserer neuen Regierung sieht das etwas anders aus. Die Richtlinien in weiten Bereichen der Politik, vor allem in der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, bestimmt Oskar Lafontaine, unser neuer Superminister für Finanzen und Wirtschaft. Als SPD-Vorsitzender ist er aber automatisch für praktisch alles zuständig.

Stollmanns Demontage

Es war schon fast peinlich, wie brutal offen Schröder in den letzten Wochen von Lafontaine an die Wand gespielt wurde. Schröders Kandidat für das Wirtschaftsministerium, der Computerunternehmer Jost Stollmann, wurde von Lafontaine regelrecht weggemobbt, indem dieser die wichtige Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums verlangte - und von Schröder auch bekam. Das Wirtschaftsministerium ist nur noch ein Witz, ein Torso ohne politisches Gewicht, geleitet vom ebenso leichtgewichtigen Ex-Manager Müller, der vor allem den Ausstieg aus der Kernenergie moderieren soll.

Murphys Gesetz à la Rot-Grün

Besonders verheerend ist die Steuerreform der neuen Regierung ausgefallen. Jost Stollmann sagte zu ihr, sie nehme den Menschen die Lust, Unternehmer zu werden. Besonders verblüffend: Die Großkonzerne werden kaum tangiert, während vorwiegend in Deutschland tätige Mittelständler durch die Ökosteuern und den Wegfall von Steuererleichterungen leiden müssen. Der Wahlkampf hatte etwas ganz anderes erwarten lassen. Selbst die Grünen waren längst weiter.
Übrigens ein Charakteristikum von Rot-Grün: Frei nach Murphys Gesetz, nach dem alles schiefgeht, was schiefgehen kann (das Brötchen fällt immer auf die Butterseite usw.), setzte sich in strittigen Fragen immer der unvernünftigere Koalitionspartner durch.

Öko-Apostel Waigel

Apropos Ökosteuern: Bisher hat noch niemand erklären können, warum die bisher 18 Erhöhungen der Mineralölsteuer weniger ökologisch waren als die 19., die Rot-Grün jetzt plant. Es spricht wieder einmal für die politische Naivität von Theo Waigel, daß er die Erhöhung um 16 Pfennig von 1995 (erbittert bekämpft von der SPD) nicht als ökologische Großtat und sich als Öko-Apostel gefeiert hat.
Eins ist jedoch sicher: Da die Menschen eher träge auf Energieverteuerungen reagieren, werden die "Ökosteuern" vor allem zusätzliche Einnahmen bringen.

Verfassungsbruch gefällig?

Inzwischen denkt Oskar schon über eine Erhöhung der Neuverschuldung nach. Damit würde die Summe der staatlichen Investitionen überschritten, und das ist laut Grundgesetz (Art. 115) nur erlaubt zur "Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts". Angesichts einer Inflation von 1%, Wachstum von über 2%, einer auch historisch keineswegs außergewöhnlich hohen Arbeitslosenquote von 8,5% und Exportrekorden ist das ein Scherz. (Schröder sagt dazu: "Die Höhe der Neuverschuldung ist Sache des Finanzministers" - siehe Zitat am Artikalanfang ...)
Schön, man kann ja nicht dauernd mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, aber in den letzten Jahren, in denen Lafontaine, von Haus aus Physiker, sich mit Hilfe des Volkswirtschaftlers Heiner Flassbeck fit gemacht hat für Weltökonomie, hätte er vielleicht auf solche Kleinigkeiten achten sollen. Flassbeck selbst, bis vor kurzem beim links angehauchten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und nun Staatssekretär bei Lafontaine, gilt allerdings in der Ökonomen-Szene, wie man hört, als Außenseiter.

Leichtes Geld für leichte Siege?

Seine Befürchtung, die Deflation von 1929 könne sich wiederholen, weswegen die Bundesbank die Zinsen vom ohnehin niedrigen Niveau weiter senken müsse, wird von kaum einem Fachkollegen geteilt.
Lafontaine paßt eine Politik des leichten Geldes allerdings um so besser in den Kram. Er verspricht sich davon eine Belebung der Inlandskonjunktur und eine Senkung der Arbeitslosigkeit.
Diese Idee hatten viele schon vor ihm. Alle mußten ernüchtert feststellen, daß eine solche Politik kurzfristig tatsächlich die Konjunktur anheizt, aber weit nachhaltiger die Inflation. Um diese zu kontrollieren, wurden die Zinsen später um so stärker erhöht - mit allen negativen Folgen.
Eigentlich hatte man gehofft, daß diese simple Lektion aus den siebziger und achtziger Jahren von den Sozialdemokraten Europas gelernt worden sei, selbst bei ihrer berühmten Begriffsstutzigkeit in solchen Fragen. Wohl umsonst.
Denn warum versucht Lafontaine nun mit allen Mitteln, die Unabhängigkeit der Bundesbank praktisch abzuschaffen? Seit über 40 Jahren genießt die Bundesbank sehr weitgehende Souveränität über die Geldpolitik. Grund: Man wollte damit die Geldpolitik aus der Tagespolitik heraushalten, um Politiker nicht in Versuchung zu führen, mit kurzfristigen Aktionen die Geldwertstabilität zu unterminieren. Fast alle Kanzler der Bundesrepublik haben darüber gemault, aber es hat sich bewährt.
Jetzt ist diese Unabhängigkeit wichtiger denn je, denn sollte Lafontaine hier ein Durchbruch gelingen, wird das auch verheerende Folgen auf die Europäische Zentralbank (EZB) haben, Hüterin des künftigen Euro.

Es geht um den Euro

Auch sie ist unabhängig, auf dem Papier sogar noch stärker als die Bundesbank. Doch diese Unabhängigkeit muß sich erst entwickeln und bewähren. Der Druck der weitgehend linken, damit tendenziell sparunwilligen Regierungen in Euroland auf die Bank für leichtes Geld und niedrige Zinsen wird enorm steigen. Es ist ein Treppenwitz, daß ausgerechnet Deutschland mit seiner berühmten Stabilitätskultur damit den Anfang macht.
Hoffnungsvoll stimmt, daß etwa das finnische EZB-Direktoriumsmitglied Frau Hämäläinen die Ideen Lafontaines mit der gebotenen Höflichkeit abschmetterte. Auch von EZB-Chef Wim Duisenberg, dem deutschen Vertreter Ottmar Issing und anderen ist das zu erwarten.
Und der Kanzler? Soll er Lafontaine widersprechen? Kann er nicht, selbst wenn er es wollte - er ist auf ihn zu sehr angewiesen. Also behilft er sich mit leeren Floskeln wie "Niemand will die Unabhängigkeit der Bundesbank antasten" und gleichzeitig vorsichtiger Zustimmung zu Lafontaine, um den Eindruck eines Dissenses zu vermeiden. Das ist keine Richtlinienkompetenz, das ist Schwäche. Schon jetzt.
Die "neue Mitte" wollte einen neuen Kanzler. Gekriegt hat sie, haben wir zwei - einen für die Kameras, einen für die Entscheidungen.