Satire

Einer wird gewinnen - wetten, daß?

Deutschland, im September 2002. Im Wohnzimer des Normalbürgers Michel Deutsch räkelt sich der Hausherr gelangweilt bei Chips und Bier vor dem 16:9 (von der EU gefördert) - HDTV-Digitalflachbildschirm der Multimediaanlage. Es läuft die 7. Wiederholung des Euroliga-Klassikers AC Mailand - Bayern München. Das siebte Achtel nach der Werbepause beginnt.

Tamara Deutsch (aus der Mikrowellenecke, ehemals Küche genannt): Wann kommt denn endlich die Wahlshow?

Michel (vergrätzt): Auf allen Kanälen um 20.15 Uhr. Ich weiß gar nicht, was du an dieser Show so toll findest. Ich fand´ das damals noch viel besser, als wir alle paar Jahre sonntags in die Kindergärten und Schulen getingelt sind, um dort unser Kreuz zu machen.

Tamara: Igitt, bist du altmodisch!

Inzwischen ist das Fußballspiel (0:0) zuende.

Michel: Gottseidank ist der müde Kick vorbei. Ab nächster Woche wird wieder Bundesliga geguckt!

Auf allen Kanälen beginnt die große Wahlshow. Die Nationalhymne wird nacheinander interpretiert von den Berliner Philharmonikern, Guildo Horn, Maria und Margot Hellwig und Nina Hagen.

Kackfreundlicher, jungdynamischer, dreifach chemisch gereinigter Off-Sprecher: Diese phantastische Nationalhymne wurde ihnen präsentiert mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Grammophon und BMG Ariola. Bleiben Sie dran! Gleich geht´s weiter!

Werbespot der Europäischen Union: Werbung gefährdet Ihre Gesundheit. Mehr als 20 Minuten Werbung pro Tag führt zu irreversibler Verblödung, emotionaler ...

Die Deutschs besuchen fluchtartig die Toilette.

20 Minuten später. Thomas Gottschalk und Arabella Kiesbauer betreten die Bühne und werden vom handverlesenen Publikum frenetisch begrüßt.

Gottschalk: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Liebes Publikum hier im Saal und vor den Bildschirmen und Radiogeräten zuhause!

Kiesbauer: Aber auch alle Ausländer, Zugereiste und Illegale, kurz, alle die sich im Vorwahlbereich der Deutschen Telekom befinden und heute mitmischen dürfen! (donnernder Applaus)

Gottschalk: Es ist eine grandiose Premiere, die wir heute feiern. Denn wer hätte vor vier Jahren gedacht, daß wir den üblichen Bundestagswahlkampf vergessen können? (donnernder Applaus)

Kiesbauer: Demokratie ist, wenn man trotzdem lacht. Daher haben die alten Säcke und Schachteln im Parlament entschieden, daß der Bundestag künftig in einer großen Fernsehshow von den Zuschauern per TED gewählt wird. Legen Sie sich etwas zu schreiben bereit, gegen Ende der Sendung blenden wir die Telefonnummern ein und sagen Ihnen, was Sie bei einer Wahlbeteiligung von uns gewinnen können.

Gottschalk (schelmisch): Aber nicht zweimal anrufen!

45 Sekunden Applaus und 30 Minuten Werbung später. Die Gruppe "DAX Sturzflug" betritt die Bühne und besingt ihre Interpretation der schwankenden Aktienkurse.

Kiesbauer: Ja, ja, Glück und Leid liegen so nah beieinander! (frenetischer Jubel) Viele Millionen Kleinanleger sind in der letzten Zeit den Bach heruntergegangen. Heute jedoch können auch Sie ...

Gottschalk: ... oder Sie ... oder Sie ...

Kiesbauer: ...zu den Gewinnern gehören, wenn Sie an der Wahl teilnehmen! Zahllose praktische Preise warten auf Sie!

Gottschalk: Ein richtigeeeer ... -. Kindergartenplatz für Ihren kleinen Racker!

Kiesbauer: Geile dritte Zähne!

Gottschalk: Ein Platz unter den ersten 100.000 auf der Warteliste des Arbeitsamtes!

Kiesbauer: Eine bezahlbare Krankenversicherung!

Michel Deutsch: Super!

Gottschalk: Survival-Training für die Durchquerung einer von der Polizei aufgegebenen durchschnittlichen deutschen Innenstadt! Lassen Sie Kreuzberg und Hannover vor Ihrer Haustür entstehen!

Kiesbauer: Alles, was Sie dazu tun müssen, ist: Nach der Vorstellung unserer Kandidaten und Parteien anrufen. Für jede Partei wird eine eigene Kennummer, eingeblendet.

Gottschalk: Lassen wir nun die Männer und Frauen, die die schwere Verantwortung für unser Land übernehmen wollen, sich einzeln vorstellen. (Licht aus, Spot an. Die Kandidaten betreten nacheinander die Bühne, an der Spitze Helmut Kohl.)

Kohl: Meine Name ist mein Programm. Ich bin Helmut Kohl. (Frenetischer Jubel) Geistig-moralische Führung ist mein Geschäft (Er setzt sich..)

Schröder: Ich bin Gerhard Schröder, und mein Name ist Programm. Ich bin sowohl für als auch gegen alles und habe alles schon mal behauptet. (Frenetischer Jubel.)

Gysi: Mein Name ist Genosse Gregor I.M. Gysi. Ich will Politbüro-Chef werden. Als staatlich anerkannter Stasi-Spitzel kenne ich Ihre geheimsten Wünsche. Ich stehe für eine ummauerte Zukunft. (Frenetischer Jubel)

Jürgen W. Möllemann: Fallschirmjäger. Wirtschaftsminister a.D., Ex-Vizekanzler und Aufratsratsvorsitzender von Schalke 04. Mehr braucht diese Republik nicht. (Setzt sich. Nur ein kleines blau-weißes Häuflein jubelt.)

Jürgen Trittin/Joschka Fischer: Wir sind Trittin und Fischer. Ex-Kommunist und Ex-Häuserkämpfer und Taxifahrer. Uns gibt´s nur im Doppelpack. Mit uns kriegen Sie nicht nur eine, nein, sondern 50.243 politische Linien. (Allgemeine Verwirrung)

Edmund Stoiber: Ich bin Stoiber. Bayern ist schön, seine Bauwerke weltberühmt und sein Bier noch rein. Wir wollen, daß es so bleibt. (Frenetischer Jubel)

Dr. Gerhard Frey: Ichch bin Doktorrrr Gerharrrd Frrrey und finde es errrschütterrrrnd, daßßß in einerrr doitschen Wahlsendung eine Negerrrin moderrriert - und überhaupt - (wird vom Werbeblock für türkische Sprachreisen ausgeblendet).

Trude Unruh: Ich bin Trude Unruh von den Grauen Panthern. Wir werden den unverschämten jungen Schnöseln ab Geburtsjahrgang 1948 zeigen, wo der Hammer hängt! Wir fordern die Gerontokratie!

Gottschalk (jovial): Ja, wer will das nicht!

Kiesbauer: Hiermit beenden wir die Vorstellungsrunde. Bitte rufen sie jetzt an. Für Helmut Kohl: 01908123-1. Für Gerhard Schröder: 01908123-2 ...

Ehepaar Deutsch stürzt zum Telefon, wobei Tamara mit nicht ganz fairen Mitteln zuerst ankommt.

Michel (sieht seine Frau wählen): Doch nicht die SPD!

Tamara (schnippisch): Aber er versteht etwas von Frauen!

TED (Computerstimme): Vielen Dank. Ihr Anruf wurde registriert.

Tamara (drückt wie verrückt auf die Wahlwiederholungstaste)

Michel: Jetzt bin ich aber dran! (Entreißt Tamara den Apparat und wählt die Nummer für Helmut Kohl. Leicht irritiert hört er nur ein Besetztzeichen. Konsterniert versucht er daraufhin, die CSU zu wählen.)

TED: Sie Pfuscher, Sie rufen nicht aus Bayern an! Außerdem sind von Ihrem Apparat bereits drei Anrufe getätigt worden.

Gottschalk: Vielen Dank, liebe Wählerinnen und Wähler. Jetzt bitte nicht mehr anrufen. Das Ergebnis steht bald fest. Aber ich darf Ihnen im Namen der Sponsoren dieser Sendung mitteilen, daß wir aufgrund der herausragenden Einschaltquote von 40% diese Bundestagswahl im nächsten Jahr wieder durchführen werden. Bis gleich!

G.D. / K.R. / MiWi