Politik

Schneller, weiter, leichter

Ist die moderne Bauweise im Bahnbereich ein Sicherheitsrisiko?

Eschede. Fortan wird der Name dieser rund dreitausend Seelen zählenden Gemeinde als Synonym für die schlimmste historische Eisenbahnkatastrophe in der deutschen Verkehrsgeschichte stehen. Unglücke vergleichbaren Ausmaßes kannte man bislang nur aus Indien oder Pakistan, wo die dort verkehrenden Züge mitunter derart überfüllt sind, daß selbst die Dachflächen der Waggons als Plätze von den Passagieren in Anspruch genommen werden.
Davon jedoch konnte bei dem in Eschede verunglückten lntercity Express (ICE) nicht die Rede sein, handelte es sich bei ihm doch um eines der Flaggschiffe der Deutschen Bahn AG. War seinerzeit die lndienststellung der ICE-Züge von klemmenden Schiebetüren und defekten Vakuumtoiletten gekennzeichnet, was der Bahn zunächst beißenden Spott einbrachte, änderte dies jedoch nichts an der sich daran anschließenden Erfolgsstory dieser Züge.
Mit ihnen gelang es, erhebliche Marktanteile vom innerdeutschen Luftverkehr zurück auf die Schiene zu holen. Vor allen Dingen stellt der Hochgeschwindigkeitsverkehr mit dem ICE für die Deutsche Bahn AG einen der Geschäftsbereiche dar, mit dem sich richtig Geld verdienen läßt.

Auf schnurgerader Strecke

Bislang galten für das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn speziell die langen Tunnelabschnitte als potentielle Gefahrenstellen. Dafür stehen stets besondere Tunnelrettungszüge rund um die Uhr in Bereitschaft, werden regelmäßige Rettungsübungen durchgeführt.
Nun erwischte es den ICE ausgerechnet auf schnurgerader Strecke mitten in der platten Norddeutschen Tiefebene - von den Ausmaßen her bislang nur mit Flugzeugabstürzen vergleichbar. Auslösendes Moment nach dem Stand der derzeitigen Ermittlungen war ein abgelöster Radreifen an einem der Drehgestelle.

Wendezüge

Allerdings wirft das Unglück von Eschede grundsätzliche Fragen der Sicherheit des Schienenverkehrs an der Schwelle zum dritten Jahrtausend auf.
Schließlich werden die Züge immer schneller, die Umläufe immer weiter und das Gewicht der Fahrzeuge immer leichter.
Die Leichtbauweise bedingt höhere Geschwindigkeiten, geringeren Energieverbrauch und weniger Verschleiß am Oberbau, d. h. dem Fahrweg. Hinzu kommt der Umstand, daß lokbespannte Züge, wie sie heute noch den Schienenverkehr dominieren, zunehmend durch Triebzüge abgelöst werden.
Dabei wird bereits heute ein Vielfaches des Zugverkehrs im Nah- und Fernverkehr mit Wendezügen abgewickelt: An den Zugenden befindet sich jeweils ein Triebfahrzeug und ein Steuerwagen. Der Zug wird also abwechselnd gezogen und geschoben. Das erspart zeitraubende, personalintensive und somit teure Lokwechsel. Diese sind eben nicht nur an den Endpunkten der Zugläufe erforderlich, sondern vielmehr auch an bedeutenden Schienenknotenpunkten wie Hamburg-Altona, Frankfurt, Stuttgart oder München Hauptbahnhof, die sogenannte Sack- oder Kopfbahnhöfe sind. Gerade hier machen die Wendezüge Sinn und sorgen für einen zügigen Verkehrsablauf.

Probleme geschobener Züge

Die mittlerweile verbreitete Leichtbauweise geht jedoch insbesondere bei den geschobenen Zügen zu Lasten der passiven Sicherheit. Denn im Falle blockierter Schienen drückt die schiebende Lok den Zugverband auf ein Hindernis. In Eschede drückte der schiebende Triebkopf am Ende des ICE die Wagen des Zuges noch weiter gegen die Brückenpfeiler, nachdem sich der ziehende Triebkopf bereits vom Zug gelöst hatte.
Nun ist keine Fahrzeugbauweise gegen herabstürzende Betonbrückenteile gefeit. Aber wie wäre das Unglück von Eschede wohl verlaufen, wenn dort nicht das verhängnisvolle Brückenbauwerk gestanden hätte und der Zug nicht noch zusätzlich von einem nachlaufenden Triebkopf geschoben worden wäre?
Beim konventionellen Zugbetrieb stellt das führende Triebfahrzeug, im wahrsten Sinne des Wortes die Zuglok also, ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitspotential dar. Im Falle eines Falles kann es bei einem Aufprall oder gar Frontalzusammenstoß einen großen Teil der Energie absorbieren. In dieser Beziehung stellt ein Optimum die althergebrachte Dampflokomotive dar, die nicht nur ein gehöriges Gewicht auf die Schiene brachte, sondern als Knautschzone einen massiven Stehkessel aufzubieten hatte.

Zuginsassen hinter Leichtbaukanzel

Aber selbst die nunmehr bis zu vierzig Jahre alten Einheitselloks der Deutschen Bahn AG, die heutigen Baureihen 110, 139, 140 sowie 141 und 150, geben noch eine akzeptable Sicherheitsfront ab.
Bei einem Steuerwagen der neuen Generation sitzen hinter der Kanzel aus Aluminium, Kunststoff und Fieberglas gleich die Zuginsassen. Zwar gibt es kaum noch Bahnübergänge, die Kollisionen mit Straßenfahrzeugen möglich machen, aber Gleisunterspülungen und Gleisverwerfungen, durch verlorene Ladung blockierte Gleise oder Sturmschäden können, wie auch Anschläge und Sabotage, einen Grund für Entgleisungen abgeben. Die Unfallbilanzen zeigen zudem, daß trotz modernster Signaltechnik Frontalzusammenstöße nicht auszuschließen sind.
Im vergangen Jahr wurde ein Doppelstockwagen eines Regionalexpresses zwischen Kassel und Fulda, wie er auch hier in Nordrhein-Westfalen in der Relation Aachen Bielefeld und zurück tagsüber stündlich verkehrt, von einem Stahlrohr aufgeschlitzt, welches kurz zuvor von einem entgegenkommenden Güterzug gefallen gestürzt war. Ein Doppelstockwagen wurde regelrecht aufgeschlitzt. Neben zahlreichen Verletzten waren etliche Tote zu beklagen.
Die Leichtbauweise der Doppelstockwagen begünstigte das Eindringen des Stahlrohres in den Fahrgastraum. Gewissermaßen kann die Außenhaut solcher Fahrzeuge nahezu mit einem Büchsenöffner geöffnet werden. Wären in diesen Zug damals die altbekannten und bewährten "Silberlinge" eingestellt gewesen, die jahrzehntelang das Bild des Nahverkehrs prägten, wären vermutlich weitaus weniger Menschen verletzt und ums Leben gekommen.
Die Leichtbauweise kann im Zeitalter geschobener Hochgeschwindigkeitszüge zu verheerenden Folgen bei Unfällen führen.
Zwar sind Crashtests, wie man sie von der Automobilindustrie her kennt, bei der Eisenbahn schlechterdings unmöglich, dennoch sollte das Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde bei künftigen Bauartzulassungen die passiven Sicherheitsaspekte mit einbeziehen.