Editorial

Reformierte Oberstufe adieu?

Baden-Württemberg will das Kurssystem abschaffen

Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) will in den kommenden vier Jahren das Kurssystem in der Oberstufe abschaffen und den Unterricht im Klassenverband auch in den oberen Klassen wieder einführen. Grund- und Leistungskurse soll es dann nicht mehr geben.

Fünf Prüfungsfächer

Die baden-württembergischen Abiturienten sollen demnächst in fünf (statt bisher vier) Fächern geprüft werden: Deutsch, Mathematik, eine Fremdsprache, ein sogenanntes Profilfach und ein Neigungsfach. Alle diese Fächer sollen vierstündig unterrichtet werden.
Hinzu kommt ein sechster Prüfungsbereich mit dem Arbeitstitel "Multidisziplinäres Lernen", der fächerübergreifend in Form eines Seminarkurses in die Abiturprüfung einfließt. Hier stellt man sich vor, etwa Chemie, Biologie und Physik zu kombinieren (oder Entsprechendes in anderen Fachbereichen), um die Scheuklappenmentalität der Schüler und Lehrer ein wenig aufzubrechen.
Profilfächer kann man schon heute in der Sekundarstufe I im Ländle wählen. Frau Schavan schwebt vor, durch die Weiterführung der Profilfächer in der Sekundarstufe II Mittel- und Oberstufe stärker zu verzahnen. Die "Bildungsbiographie", wie es neudeutsch heißt, soll stringent und schlüssig sein. Ähnliche Pläne gibt es in Bayern.
Ohne Frage wird die Wiedereinführung des Klassenverbandes hohe Wellen schlagen. Doch obwohl Frau Schavan meint, die "soziale Funktion" eines Klassenverbandes sei allzu lange unterschätzt worden, dürfte dies wohl nicht der Hauptgrund sein. Für die Konzentration auf die allgemeinbildenden Fächer ist der Klassenverband organisatorisch offenbar überlegen.
Denn das Ziel der Reform liegt nicht in der Beschwörung der Vergangenheit, sondern der Stärkung der Allgemeinbildung und Kappung der bisherigen Spezialisierung.

Nicht nur Vorteile

Die Schavan-Pläne haben natürlich auch ihre Nachteile. Selbst "funktionierende" Klassenverbände haben fast immer ihre Außenseiter, die auf ganz bestimmte Rollen fixiert sind. Gerade für solche Schüler kann das Ende des Klassenverbandes ein Segen sein. Doch angesichts der auch in Baden-Württemberg durchaus angepeilten Wahlfreiheit ist dieser Nachteil zu verschmerzen, da es auch in Zukunft immer noch genug Stunden geben wird, in denen man sich von den ach so lieben "Klassenkamerad(inn)en" erholen kann.
Einst hielten die Linken in Deutschland die Schulreform für die aussichtsreichste gesellschaftliche Reform überhaupt. Hier sollte wie in einem gigantischen Labor bewiesen werden, daß die Menschen weitgehend gleich seien und fast ausschließlich von der Umwelt geprägt würden. Das Ganze hatte nur zwei Nachteile: Der Beweis wurde nicht erbracht, und die Versuchskaninchen waren Schüler.
Heute nickt die Schröder-SPD beifällig, wenn Vertreter der Industrie beklagen, die deutschen Abiturienten seien im Spezialwissen zwar ganz gut, hätten aber keine Ahnung von Kommasetzung und Probleme mit der Anwendung des Dreisatzes.

Hemmschuh Gesamtschule

In Nordrhein-Westfalen hat Kultusministerin Behler (SPD) angekündigt, die allgemeinbildenden Kernfächer stärker in den Vordergrund zu rücken, freilich ohne die Konsequenz und Logik ihrer Kollegin aus Baden-Württemberg. Wie auch: Die Oberstufe hierzulande ist ein Ergebnis hochfliegender Reformen in den 70er Jahren und der freudlosen Verwaltung des angerichteten Schadens durch uninspirierte Bürokraten. Schritt für Schritt wird die Wahlfreiheit beschränkt und verändert, ohne daß ein Konzept zu erkennen wäre.
Solange in der Grundschule die lächerlichen Gutachten statt Zeugnisse mit Noten um sich greifen ("Kevin bemüht sich" = fünf, "Anna hat ein überdurchschnittliches Kommunikationsverhalten" = "Die kleine Kröte stört andauernd"), kann man ein grundlegendes Umdenken von der rot-grünen Landesregierung nicht erwarten.
Hinzu kommt, daß es im Ländle fast keine Gesamtschulen gibt, in NRW hingegen über 60. Gesamtschulen sind ohne "Binnendifferenzierung" in Kursen nicht vorstellbar. Was wieder einmal zeigt, daß diese Schulform nur sehr eingeschränkt funktioniert und eine Weiterentwicklung der Schulpolitik enorm hemmen kann.
Zwischen einem ausufernden Kurssystem und sentimentalem Festhalten am Klassenverband ist auch noch ein dritten Weg möglich, der die Vorteile kombiniert: das wird der Schavan-Plan zeigen. Gut möglich, daß angesichts des zusammenwachsenden Europa und der ideologischen Leere der deutschen Linken demnächst manches in der Schulpolitik auf die richtigen Gleise kommt. Spätestens dann, wenn Deutschlands Süden den Rest der Republik abzuhängen droht.