Editorial

Der Kindertraum

Für einen Umbau des föderalen Systems oder:
Zuviel Konsens ist ungesund

Deutschland nennt sich einen föderalen Staat. Aber was heißt das eigentlich? "Föderalismus", also Selbständigkeit der Länder innerhalb der Bundesrepublik, findet in der politischen Wirklichkeit nicht mehr statt.
In Wirklichkeit ist Deutschland ein Zentralstaat, der von der Bundesregierung und den 16 Landesregierungen gemeinsam regiert wird. Niemand käme auf den Gedanken, Ministerpräsidenten wie Schröder oder Lafontaine anhand - je nach Sichtweise - ihrer Leistungen oder ihres Versagens in Niedersachsen oder im Saarland zu messen. Ihr politisches Gewicht resultiert vor allem aus ihrer Rolle im Bund.
Niemand (vielleicht mit Ausnahme leidender Schüler und scharfsichtiger Eltern) käme auf den Gedanken, die Leistungen einer Landesregierung an ihrer Schulpolitik zu messen - das Gebiet, auf dem sie die größte Autonomie genießt. Doch auch hier engt die Kultusministerkonferenz den Freiraum der einzelnen Länder immer mehr ein. (Welche grandiosen Ergebnisse dabei herauskommen können, hat jüngst die Rechtschreibreform gezeigt.)

Entscheidungsunfähigkeit

Viel gravierender jedoch ist die Entscheidungsunfähigkeit, die sich bei unterschiedlichen Mehrheiten im Bundesrat und im Bundestag bemerkbar macht. Eine solche Situation haben wir zur Zeit. Wer Schuld hat, soll hier nicht diskutiert werden.
Tatsache ist aber: Beide Seiten handeln völlig verfassungskonform. Wenn eine Steuerreform, die natürlich auch zu einem Teil die Finanzen der Länder berührt und daher vom Bundesrat genehmigt werden muß, nicht in beiden Häusern mehrheitsfähig ist, dann bleibt eben alles beim alten.
Wie man sieht, bringt eben nicht jede Zeit Politiker hervor, die fähig sind, sich jenseits aller Wahlkampfkalküle auf Kompromisse zugunsten der Allgemeinheit zu einigen. Natürlich kann man darüber in moralische Entrüstung ausbrechen ("die da oben ...!"). Aber das bringt nichts. Das Problem wird immer wieder auftauchen, weil Menschen nun mal so sind, wie sie sind. Aber wir werden es uns immer weniger leisten können.

Entmischung der Kompetenzen

Daher hilft nur eine Entmischung der Kompetenzen von Bund und Ländern. Der Bundestag muß mehr Möglichkeiten bekommen, seine Entscheidungen auch ohne den Bundesrat durchzusetzen. Gleichzeitig sollte den Ländern das Recht zugestanden werden, in mehr Bereichen als bisher eine eigenständige Politik zu betreiben.
So ist eine Finanz- Steuer- und Wirtschaftspolitik auf Länderebene bisher kaum existent. Die Landesparlamente haben auf die Einnahmen ihres Bundeslandes nur sehr geringen Einfluß. Wenn die Länder in begrenztem Rahmen in diesem Bereich mehr Rechte erhielten, würde die Landespolitik aufgewertet. Bisher wird sie von den Bürgern kaum wahrgenommen.
Ein Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel einer Entmischung der Bundes- und Landeskompetenzen wäre zwar wünschenswert, aber dermaßen kompliziert und langwierig, daß man darauf erst gar nicht hoffen sollte. Leider ist in den vergangenen 20 Jahren viel gesündigt worden. Immer wieder haben Bund und Länder für finanzielle Zugeständnisse untereinander den Preis des Mitspracherechts der jeweils anderen Seite gezahlt.
Das, was Politik transparent und spannend macht, was die Menschen polarisieren und elektrisieren kann, sind kurz bevorstehende Entscheidungen über weittragende Reformen. Entscheidungen aber finden bei uns kaum noch statt, und wenn, dann nach einem extrem langen, extrem zähen Ringen mit einem extrem komplizierten Kompromiß, der vor lauter Frust, Verwirrung und Ärger von den Bürgern kaum wahrgenommen wird.

Einheitlichkeit und Föderalismus

Man muß ja nicht gleich das britische Modell einer "Parlamentsdiktatur" herbeiwünschen. Aber eine Bundesregierung, die nicht nur entscheiden will, sondern auch kann, und Landesregierungen, die mit unterschiedlichen Politikansätzen untereinander um den besten Weg konkurrieren, statt auf den Länderfinanzausgleich und die Bundeszuweisungen zu schielen, hätten den Vorteil, daß wenigstens etwas passierte. Zudem wären die Verantwortungsbereiche deutlich aufgeteilt.
Viele werden sich solchen Ideen mit dem Argument entgegenstellen, es drohe eine neue Kleinstaaterei; die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Art. 106 GG) werde nicht gewährleistet.
Aber eine besonders eng interpretierte "Einheitlichkeit" entzieht jeder eigenständigen Landespolitik die Grundlage. Einheitlichkeit läßt sich am besten von einem reinen Zentralstaat gewährleisten. Dann können wir auch gleich die 16 Landesparlamente mit ihren 1.971 Abgeordneten und die 16 Landesregierungen mit ihren 162 Ministerpräsidenten, Ministern und Senatoren abschaffen.
Die Verfassung - die geschriebene und die Verfassungswirklichkeit - sollte Politiker zu Entscheidungen zwingen. Das jetzige System fördert ein würdeloses Schwarze-Peter-Spiel mit der Verantwortung. Zugleich verwischt es die Unterschiede zwischen Opposition und Regierung. Dadurch wächst jedoch die allgemeine Politikverdrossenheit.
Das deutsche System mit seiner Konsensduseligkeit selbst in zweit- und drittrangigen Fragen mag einem weit verbreiteten Harmoniestreben entgegenkommen. Und, das sei zu seiner Ehre gesagt, es vermeidet schlimme Fehlentscheidungen. Aber dummerweise versagt es, wenn schnelle Reformen und Entscheidungen gefragt sind, aber einige der Mitentscheider sich zur Blockade entschieden haben.
Regierung regiert; Opposition opponiert; und die Wähler entscheiden alle paar Jahre neu. So sieht der Kindertraum von Demokratie in Bund und Ländern aus. Man sollte ihn - wenigstens ein bißchen - wahr werden lassen.