Politik

"JEDEM DAS SEINE"

Ein Besuch im ehemaligen KZ Buchenwald

Diesem makaberen Spruch begegne ich schon am Eingangstor des Konzentrationslagers in der Nähe Weimars. Ich betrete die Gedenkstätte und treffe auf einen riesigen Platz, der heute noch sichtbar zeigt, wo jede einzelne Baracke gestanden hat. Ein eisiger, kalter Wind weht hier, und schon nach wenigen Minuten fange ich an zu frieren. An den Gedenktafeln vorbei, welche jede einzelne Barackennummer und die Nationalität der ehemaligen Insassen wiedergeben, führt mein Weg ins Krematorium von Buchenwald. Beim Anblick der Verbrennungsöfen kann ich nur noch bedrückt und schweigend meinen Weg durchs Gelände fortsetzen. In Gedanken frage ich mich, wie es wohl erst in Auschwitz, einem Vernichtungslager, aussehen wird.
Weiter führt mein Weg zu einem Steinhaus, der ehemaligen Effektenkammer. Dort wurden alle mitgebrachten Gegenstände und Kleidungsstücke gegen Gefangenenkleidung ausgetauscht. Heute finde ich hier eine präzise Zeitdokumentation mit Originalgegenständen und Fotos über den Alltag der Gefangenen. Auf zwei Etagen erfahre ich etwas über die Grausamkeiten und das menschenunwürdige Leben der Insassen.

Tagesablauf

Eines wird für mich hier sichtbar: Ein Konzentrationslager war nicht nur Mittel für die "Endlösung", d.h. die Vernichtung sämtlicher Juden, sondern auch ein Lager, in das Menschen aller Nationen und aller Schattierungen wie Politische, Kriminelle, Homosexuelle, Bibelforscher und Sicherungsverwahrte (aus Zuchthäusern) kamen. Diese Menschen wurden durch verschiedenfarbige "Winkel" aus Stoff, welche sie mit ihrer Häftlingsnummer an der Kleidung zu tragen hatten, eingestuft.
Nun möchte ich konkret etwas über das Lagerleben der Häftlinge wissen. Wie gestaltete sich der Tagesablauf, Nahrungsmittel, Unterkünfte, Hygiene, Kultur...; auf alle diese Fragen finde ich in der Ausstellung reichlich Antworten.
Eine einzelne Holzbaracke zu ebener Erde hatte zwei Flügel. In der Mitte war der Eingang mit Vorraum, Waschraum und Toilettenanlage bzw. Latrine. In jedem Flügel befand sich ein Tagesraum, in dem lange Tische und Bänke standen. Dort hatte jeder seinen zugewiesenen Platz. Hinter dem Tagesraum war der Schlafsaal. Hier standen die dreistöckigen, schmalen Metallbetten mit Strohsäcken. Fast jeder Block war überfüllt. Meist schliefen etwa drei bis vier Häftlinge in zusammengerückten Betten auf jeder Etage. Morgens sehr früh wurde geweckt. Wenig Zeit blieb bei den vielen Gefangenen, um sich an dem Rundbecken, aus dem an mehreren Hähnen ein Kaltwasserstrahl floß, zu waschen. Etwa alle zehn Tage erhielten sie die Möglichkeit, blockweise zum Duschen in den großen Baderaum zu gehen, aber die Zeit, die für die Brause zu Verfügung stand, war immer zur kurz. Daß sich z.B. Fleckfieber durch Läuse verbreiten konnte, wird mir verständlich. Zum Rasieren fanden die Häftlinge meist erst nach dem Abendappell Zeit. Mir geht durch den Kopf, mit welcher Selbstverständlichkeit ich jeden Tag unter die Dusche gehe.
Als Tagesproviant erhielt jeder Gefangene 1/2 Liter Kaffee, zehn Gramm Margarine, etwa 300 Gramm Kommißbrot, einmal die Woche einen Eßlöffel Marmelade und hin und wieder ein Stück Wurst. Ich glaube, ich muß nicht erst fragen, was jeder einzelne von uns den ganzen Tag über verzehrt. Und bei dem Gedanken an meinen doch recht gut gefüllten Kühlschrank wird mir schon ein wenig anders.

Zählappelle

Nach dem "Frühstück" mußten die Häftlinge in Fünferreihen vor dem Block antreten, von dort ging der Block zum Appellplatz. Der SS-Blockführer erschien, um die genaue Belegstärke des Blocks zu kontrollieren. Der Blockälteste meldete in der Regel, 350-450 Häftlinge seien angetreten. Der SS-Scharführer zählte dann jeden einzelnen Block nach, dieses Zusammenzählen dauerte meist stundenlang. Bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit, ob heiß oder kalt, bei Regen oder Schnee - jeden Tag zweimal morgens und abends mußte die Lagerstärke festgestellt werden. Bei mehreren zehntausend Gefangenen kann ich mir diese Prozedur vorstellen.
In Buchenwald wurden ehemalige jüdische Kaufleute, Schneider, Rechtsanwälte, Ärzte, etc. zum Bau einer Rüstungsfabrik eingesetzt, oder sie mußten im in unmittelbarer Nähe gelegenen Steinbruch arbeiten. Am Abend, zurück von der schweren Arbeit, teilte der Stubendienst dann die Suppe aus, die entweder aus Steckrüben oder Graupen bestand oder undefinierbar war. Manchmal gab es auch Grießbrei. Nachschlag reichte meist nur für einen Teil des Blocks, stets wurde aber darauf geachtet, daß am nächsten Tag der andere Teil berücksichtigt wurde. Trotz der großen Not ging es unter den meisten Häftlingen sehr solidarisch zu. Nur einigen wenigen mutigen Häftlingen ist es zu verdanken, daß das Kind Stefan Zweig, welches in einem Koffer nach Buchenwald kam, überlebte. Diese wahre Geschichte kann man in dem Buch "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz nachlesen. Leider war auch Brutalität an der Tagesordnung. Die in dem Steinbruch als Aufseher eingesetzten Häftlinge waren Kriminelle aus Zuchthäusern. Sie quälten manchen Häftling zu Tode.
Nach dem "Abendessen" war wieder der obligatorische Abendappell. Nach dem Abrücken konnten die Häftlinge noch jemanden auf der Lagerstraße treffen oder in den Baracken besuchen. Die medizinische Versorgung der Häftlinge war miserabel, und jeder Gefangene hatte Angst, daß seine Krankheit sein Todesurteil bedeuten könnte, denn ein kranker Häftling kann nicht arbeiten.
In Buchenwald fanden auch von der SS geduldete Kulturabende statt. Es wurden Kabarett, Bunte Abende und Konzerte veranstaltet. Leider benötigte der einzelne einen der gefragten Einlaßzettel. Jazzmusik war von den Nazis verboten, wurde aber heimlich unter den Augen einiger SS-Leute geduldet. Natürlich gab es unter der SS verschiedene Charaktere, wenige waren human, die meisten waren undurchsichtig und gefährlich. Die Häftlinge mußten ständig auf der Hut sein.

Befreiung

Nachdem ich soviel über das Leben der Insassen gefunden hatte, interessierte mich nun, wie die Befreiung des Lagers ablief bzw. wie die Tage davor waren.
Am 5. April 1945 schickte die SS fast alle Juden auf einen Todesmarsch, und schon am 11. April 1945 war die Lagerstärke drastisch reduziert. Das Kriegsende war nahe und die Amerikaner kurz vor Buchenwald. Die SS floh und ließ die restlichen Gefangenen zurück. Für die Amerikaner bot sich ein erschütternder Anblick: Insassen bettelten am Stacheldraht um Brot. Ein paar Wochen später durften erstmals einige der Überlebenden mit einem Urlaubsschein nach Weimar fahren. Am 17. Mai 1945 wurden die Überlebenden mit Bussen in ihrer Heimatstädte zurückgebracht. Die Zahl der Juden war gering. Nicht immer wurde den Zurückkehrenden problemlos eine Unterkunft angeboten. Viele bekamen nur ein Zimmer bei fremden Familien, selten eine Wohnung zugewiesen.
Sicher habe ich viele Details dieses fürchterlichen Geschehens nur ungenügend wiedergeben können. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß jeder von uns einmal die Gelegenheit nutzen sollte, ein Konzentrationslager wie Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald oder Vernichtungslager wie Auschwitz und Treblinka zu besuchen. Damit wir uns immer vor Augen halten, was menschliche Ideologie anrichten kann.
Am Ende der Ausstellung in Buchenwald fand ich Gelegenheit, meine Meinung im Gästebuch einzutragen. Beim Durchblättern fielen mir betroffene Einträge und großes Bedauern auf. Als ich den Satz lese "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein", packt mich die Wut, denn ich weiß nicht, worauf wir stolz sein könnten. Ich weiß wohl, daß ich nicht für das Unrecht verantwortlich bin und daß es keine Wiedergutmachung gibt. Aber eines kann ich und jeder, der sich seiner Pflicht als Mitmensch bewußt ist, tun: Sich auflehnen gegen jegliche Ausgrenzung Andersartiger. Niemand darf wegen seiner Hautfarbe, seiner Behinderung, seinem Nicht-der-Norm-Entsprechen verfolgt, mißhandelt oder verachtet werden. Dafür müssen wir alle einstehen. Nicht weil es in einem Gesetz steht, sondern weil jeder einzelne Mensch ein Recht auf ein Leben in Würde hat.

Manuela Lichthorn