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Francois Mitterand

Eine Biographie über eine der faszinierendsten Persönlichkeiten Europas

Am 8. Januar 1996 ist Francois Mitterrand gestorben, von 1981 bis 1995 Präsident der französischen Republik. Nun ist die erste ernstzunehmende Biographie dieses großen Politikers auch in Deutschland erschienen, geschrieben von Franz-Olivier Giesbert, dem Chefredakteur der renommierten französischen Tageszeitung "Le Figaro".
Um es vorwegzunehmen: Das Buch ist über weite Strecken faszinierend und spannend. Der Autor versucht, Mitterrand so gerecht wie möglich zu werden - und das ist extrem schwierig.
Denn jeder markante Abschnitt in seinem Leben, der eindeutig zu sein scheint, erscheint auf den zweiten Blick im Zwielicht. Es ist gesichert, daß Mitterrand (Tarnname "Morland") einer der wichtigen Führer der Resistance war und nur mit viel Glück der Gestapo immer wieder durch die Finger schlüpfte - aber wie paßt dazu die Tatsache, daß er für das Vichy-Regime arbeitete und sogar einen Orden annahm?
Die französische Diskussion über Mitterrands Vergangenheit während der deutschen Besetzung Frankreichs schwappte auch in Teilen nach Deutschland und erweckte hier den Eindruck, unsere doch sonst so nüchternen Nachbarn seien drauf und dran, ihren Staatspräsidenten zu einem Kollaborateur der Nazis zu machen. Nichts ist falscher, wie aus Giesberts Analyse hervorgeht. Die Annahme des kübelweise verliehenen Ordens sollte seiner Sicherheit dienen; und daß er nach seiner Flucht einige Monate der Orientierung benötigte, kann man schwerlich als Kollaboration auslegen.
Daß seine beeindruckenden Leistungen während des zweiten Weltkrieges in Frankreich überhaupt in Zweifel gezogen wurden - sogar seine (vielfach belegte und bezeugte) dreifache Flucht aus deutschen Lagern wurde in Frage gestellt - hat sich Mitterrand allerdings auch selber zuzuschreiben.
Denn für seine Meisterschaft der politischen Taktik, Doppelbödigkeit und Intrige mußte er mit einem erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust bei seinen Landsleuten bezahlen.
Widersprüche durchziehen Mitterrands ganzes Leben. Er war der große Einiger der nichtkommunistischen Linken 1971. Zugleich zielte sein enormes Machtbewußtsein längst auf das Präsidentenamt. Die sozialistische Ideologie wurde zu einem Werkzeug, das dann 1983, als seine Untauglichkeit festgestellt wurde, auf dem Müllhaufen verschwand.
Mitterrand war in den sechziger Jahren der größte Kritiker des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. In seinem Buch "Der permanente Staatsstreich", einer ätzenden Polemik, rückt er den Helden des französischen Widerstandes in die Nähe lateinamerikanischer Militärdespoten. Das hindert ihn keineswegs daran, fast alle Elemente der gaullistischen Politik aufzunehmen und zu vervollkommnen: Das Betonen der französischen Souveränität, die Idee eines politisch von Frankreich geführten Europas und das Beharren auf der eigenen Atomstreitmacht. (Ironischerweise ist es der "gaullistische" Präsident Jacques Chirac, Mitterrands Nachfolger, der den Gaullismus in Teilen aufgibt, indem er Frankreich wieder stärker in den Westen integriert.)
Mitterrands Verhältnis zum Kommunismus und zu Kommunisten ist ebenso doppelbödig. Den Kommunismus nimmt er schon intellektuell nicht ernst. Doch ohne die Kommunisten, unter denen er viele Freunde hat, lassen sich Wahlen im Frankreich der siebziger Jahre nicht gewinnen.
Aufschlußreich ist eine Diskussion mit dem spanischen Sozialistenführer (und späteren Ministerpräsidenten) Felipe Gonzalez mit Mitterrand aus dem Jahr 1975, lange vor seiner Wahl zum, Präsidenten. Beide haben dasselbe Ziel: Eine starke moskautreue kommunistische Partei eliminieren und deren Wähler auf ihre Seite ziehen. Ihre Wege sind aber grundverschieden: Gonzalez sucht die Konfrontation, die offene Auseinandersetzung, während Mitterrand die französischen Kommunisten umarmen und dabei ersticken will. Beide erreichen ihr Ziel; Gonzalez sogar schneller und gründlicher als Mitterrand.
Der nimmt - ohne Not - nach seiner Wahl 1981 und der gewonnenen Parlamentswahl mehrere Kommunisten in sein Kabinett auf. Das hindert ihn keineswegs daran, dem bedrängten Helmut Kohl mit einer eindeutigen Rede für die NATO-Nachrüstung und die atomare Abschreckung zur Hilfe zu kommen. Oder eben mal 40 sowjetische Botschaftsangehörige des Landes zu verweisen. Die Kommunisten schaffen es nicht, ihrer Klemme aus Moskautreue und Machterhalt zu entfliehen. Was sie auch tun, sie verlieren - und verfallen Mitterrands Verachtung, der nur vor ebenbürtigen Gegnern Respekt hat.
1986 verliert die Linke zum ersten Mal seit Mitterrands Wahl die Mehrheit im Parlament, und der Präsident ernennt seinen stärksten innenpolitischen Gegner, Jacques Chirac, zum Ministerpräsidenten. Mit einer raffinierten "Ja, aber"-Politik treibt Mitterrand Chirac zum Wahnsinn und holt sich gegen den taktisch nicht so versierten Ministerpräsidenten die Sympathien der Franzosen zurück, die ihn zwischenzeitlich ziemlich leid waren. So kann er die Präsidentschaftswahlen 1988 gewinnen.
Mitterrands Ende ist so dramatisch wie sein Leben. Schon 1981 wird Krebs diagnostiziert. Es ist bewundernswert, wie er die 14 Jahre Präsidentschaft durchhält. Die Öffentlichkeit wird über seinen wahren Gesundheitszustand systematisch im unklaren gehalten. Da er auf starke Schmerzmittel verzichtet, werden die letzten Jahre, in denen er auf tägliche Infusionen angewiesen ist, zu einer furchtbaren Qual.
Wer von Politikern in jeder Lebenslage Wahrhaftigkeit verlangt, wer Überzeugungen für wichtiger hält als die Macht, für wen der Zweck die Mittel nicht heiligt - der wird sich mit Mitterrand kaum identifizieren können. Am Ende seiner 14 Jahre Amtszeit resümieren nicht wenige Linke verbittert, sie hätten sich die ganzen Jahre von einem reinen Machtpolitiker einspannen lassen, dem Ideale völlig egal seien.
Doch auch diese Einschätzung verwirft Giesbert. Mitterrands soziale Einstellung ist unwiderlegbar. Und in einem weiteren wichtigen Punkt ist er immer konsequent: Europa. Dort trifft er sich mit einem der wenigen echten Freunde, die er hatte: Helmut Kohl.
Beide interpretieren Politik aus Geschichte, beide sehen die Zukunft in Europa, und beide kommen sich gegenseitig in schwierigen Zeiten immer wieder zur Hilfe. Da fiel selbst Mitterrands größte Fehlkalkulation, die Ablehnung der deutschen Einheit, kaum ins Gewicht.

Franz-Olivier Giesbert: François Mitterrand. 640 Seiten, Propyläen, ISBN 3-549-05463-7, 78 DM.

G.D.