Editorial

Der Sandsack

Neues deutsches Einheitssymbol

Deutschlands Einheit und ihre Vollendung - oft beschworen und herbeigesehnt, bejubelt wie bemäkelt, abgelehnt oder gar verdammt - welches Relikt mag sie wohl am besten symbolisieren?
Spontan mag einem dazu gerade noch der mittlerweile in einschlägigen Kreisen schon längst zum Kultobjekt avancierte PKW des Fabrikats TRABANT einfallen, bediente man sich dieses Gefährts doch direkt nach der Grenzöffnung, um damit per Ausreise erste Eindrücke von der alten Bundesrepublik zu gewinnen: Sinnbild für neue Mobilität und Freizügigkeit, Zeichen für den äußeren und räumlichen Vollzug der Einheit.
Was jedoch die innere Einheit anbelangt, spricht man immer noch von der Mauer in den Köpfen, werden angeblich alte Grenzlinien wieder neu gezogen.
Im Bewußtsein der Bevölkerung in den alten Bundesländern existierte, wenn überhaupt, nur das Bild der martialischen, innerdeutschen Demarkationslinie beziehungsweise die Mauer in Berlin.

"Oder-Neiße-Friedensgrenze"

Dabei verfügte die vormalige Deutsche Demokratische Republik (DDR) auch über Außengrenzen zur damaligen Tschechoslowakei und zur Volksrepublik Polen. Für die letztere wurde gerne die Bezeichnung "Oder-Neiße-Friedensgrenze" bemüht und dabei nicht selten überstrapaziert, um das Verhältnis zu dem östlichen Nachbarland für die Propaganda zu charakterisieren.
Und das sowohl nach innen als auch nach außen, um die Unverletzlichkeit der Grenze hinsichtlich der Ostgebiete des untergegangenen Deutschen Reiches zu manifestieren.
In der Praxis freilich hatte diese sogenannte Friedensgrenze zu Zeiten der DDR hüben wie drüben mehr Trennendes als Verbindendes, spätestens nachdem in Polen die Solidarnosc-Bewegung von sich reden machte.

Jahrhundertflut im Sommerloch

Ausgerechnet im vielzitierten publizistischen Loch des Sommers 1997 war in den Medien dann die Rede von Verteidigungslinien, die von der Bundeswehr entlang der Oder zu errichten und zu halten waren. Es war aber mitnichten der Verteidigungsfall, der gegenüber dem zukünftigen NATO-Mitglied Polen eingetreten war, sondern vollkommen untypisch und jenseits aller Schmelzwasserperioden die "Jahrhundertflut", die da auf der Oder daherkam und zuerst Tschechien und Polen in verheerender Weise heimgesucht hatte.
Welche Schäden diese Flut im Bundesland Brandenburg entlang der Oder letztendlich angerichtet hat, wird sich erst in den nächsten Wochen halbwegs abschätzen lassen, wenn das letzte Wasser aus den Überschwemmungsgebieten abgeflossen ist. Es hilft den betroffenen Menschen nicht, die oftmals ihr ganzes Hab und Gut verloren, wenn ihr Schicksal durch die noch weitaus schwereren Hochwasserschäden in Tschechien und Polen relativiert wird, deren Bewältigung wahrscheinlich noch länger dauern wird.
Daß es aber in Deutschland nicht annähernd zu Schäden vergleichbaren Ausmaßes kam und vor allen Dingen keine Menschen starben, ist in erster Linie Einheiten der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes, des Technischen Hilfswerks (THW) und anderen Organisationen und den zahllosen freiwilligen Helfern zu verdanken, die vor allen Dingen Sandsäcke füllten und damit die Deiche verstärkten und sicherten.
Säcke, die als Leergut aus allen Ecken und Winkeln der gesamten Republik zusammengekratzt und in den äußersten Osten unseres Landes geschafft wurden, um dort von Helfern aus Ost und West mit märkischem Sand befüllt zu werden.
So kommt dem plumpen, schweren Sandsack durchaus eine gewisse Symbolik zu für das, was bei der Bewältigung der Flutkatastrophe auf dem Weg zur Verwirklichung der inneren Einheit geleistet wurde und bei den Aufräumarbeiten noch zu leisten sein wird.
Bleibt nur zu hoffen, daß man bei aller nationalen Hilfsbereitschaft und Solidarität die Menschen in Polen und Tschechien nicht vergißt. Das wäre im übrigen auch ein tatsächlicher Beitrag zu dem, was man in der DDR stets nur zu gerne als internationale Solidarität beschworen hat.