Editorial

Der grollende Präsident

Roman Herzog sagt, was Sache ist

Stellt das Eingreifen des Bundespräsidenten Roman Herzog in die aktuelle Diskussion um die Steuer- und andere Reformen eine Überschreitung der durch das Grundgesetz auferlegten Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Bundespräsidenten dar?
Viele Fragen stellen sich bezüglich der Rede Roman Herzogs am 25. April im Berliner Hotel Adlon. Diese Rede ist aber nicht der erste Kritikansatz. Schon bei mehreren Gelegenheiten hat Roman Herzog Kritik am zu taktischen Verhalten der Parteien geäußert. So rief er auf, endlich die "virtuelle Verhandlungsszenerie" zu verlassen und "endlich wieder zur Realität der Menschen, zu ihren Problemen und deren Bewältigung zurückzukehren".
Am 23. April sagte Roman Herzog auf dem bayerischen Sparkassentag in Nürnberg nach Bekanntwerden des Scheitern der Steuerkompromißgespräche: "Die Bürger haben dafür kein Verständnis mehr." Nachdem die vielfältigen Ermahnungen keine Wirkung zeigten, hat sich Roman Herzog zu der deutlichen Rede im Hotel Adlon entschlossen.
Adressaten waren aber nicht nur die Politiker, sondern auch die Bevölkerung. "Das Land leidet unter unglaublicher mentaler Depression", so Herzog in seiner Rede. Auch wandte er sich gegen die Besitzstandswahrer in unserem Lande. "Mit dem rituellen Ruf nach dem Staat geht ein gefährlicher Verlust an Gemeinsinn einher."
Besonders hart wirkt die Kritik auf Politiker, die in unserer repräsentativen Demokratie nicht zu grundlegenden Reformen in der Lage sind. Die parteitaktischen Spielchen verurteilt Roman Herzog auf das Entschiedenste und mahnt endlich die anstehenden Reformen an.
Zur Frage der Autorität ist festzustellen, daß Roman Herzog sich einer großen Beliebtheit in der Bevölkerung erfreut. Anders als sein Vorgänger, der nüchtern-aristokratische Richard von Weizsäcker, geht Roman Herzog bewußt auf die Bürgerinnen und Bürger zu, stellt sich Gesprächen. Auch spricht er - sehr pointiert - die Sprache der Bürger. Diese Sympathie ist für ihn das Pfund, mit dem er wuchern kann.
Auch sein Verzicht auf eine weitere Amtszeit und die daraus resultierende Unabhängigkeit macht Roman Herzog in seinem Anliegen glaubwürdig. Die Anstöße, die er gibt, sind somit nicht einfach vom Tisch zu wischen oder zu ignorieren. Als ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts kennt Roman Herzog die dem Bundespräsidenten in der Verfassung gezogenen Grenzen sehr genau.

Reaktion

Die erste Reaktion der Politiker war dann auch sehr bezeichnend: Jede Partei stimmt voll mit der Kritik überein, es seien immer die anderen schuld. Nur Bundeskanzler Kohl ging auf die Kritik dezidiert ein und begrüßte die Anregungen.
Sollten keine entsprechenden Reaktionen oder Ergebnisse auf seine Anregungen folgen, wird Roman Herzog weitergehen. Er ist nicht der Typ, der schnell resigniert. Auch bezeichnet er sich selbst als hartnäckig und unbequem. Eine Besinnung der Bonner Politiker ist aber noch nicht endgültig ausgeschlossen; Bundeskanzler Kohl betonte, er sei für weitere Verhandlungen offen.
Es bleibt also abzuwarten, ob Oskar Lafontaine von seinen fundamentalistischen Positionen alleine herunterkommt oder ob seine Parteifreunde ihn wegen seines Isolationskurses stürzen. Auch die Bundesregierung muß sich bewegen. Nicht jede Forderung der SPD ist falsch, und warum nicht die Reformen auf einen möglichst breiten Konsens stellen? Es ist höchste Zeit für einen Kompromiß.
Es ist zu begrüßen, daß eine politische und moralische Instanz die Lethargie der Politiker überwunden hat. Es muß ein Anfang gemacht werden, wenn wir nicht von den Problemen überrannt werden wollen. Es ist nur noch eine Minute vor zwölf, für weitere parteitaktische Spielchen bleibt keine Zeit mehr. Der Bürger wird weiteres Zögern bei der nächsten Wahl bestrafen, für ein "Weiter so" bleibt keine Zeit mehr.

K.R.



"Natürlich kenne auch ich die Umfragen, die uns sagen, daß unsere Jugend beginnen, an der Lebens- und Reformfähigkeit unseres "Systems" zu zweifeln. Ich sage ihnen aber: wenn ihr schon "dem System" nicht mehr traut, dann traut euch doch wenigstens selbst etwas zu!"

Bundespräsident Roman Herzog in seiner Berliner Rede