Editorial

Die 7. Regierung Kohl?

Der Kanzler will es noch mal wissen

Wer ist Lothar Späth? Die etwas Jüngeren dürften diesen Namen nur noch aus Erzählungen oder als derzeitigen Chef der Jenoptik AG in Thüringen kennen. Wenn überhaupt.
Doch Lothar Späth ist auch der letzte CDU-Politiker, der ernsthaft den Versuch unternahm, Helmut Kohl zu stürzen. Das war 1989 - ein Jahr vor der deutschen Einheit! Und Späth, damals baden-württembergischer Ministerpräsident, scheiterte - an sich selbst, an Kohl und an den Verhältnissen.

Keine Revolte seit acht Jahren

Seitdem hat kein Unions-Spitzenmann, dem auf kürzere oder längere Sicht das Zeug zum Kanzler zugetraut wurde (Schäuble, Rühe, Waigel, Rüttgers), die Profilierung gegen Kohl gewagt. Einzig Wolfgang Schäuble wäre heute ein ernstzunehmender Konkurrent. Doch obwohl (oder gerade weil?) der CDU-Fraktionschef die politischen Notwendigkeiten deutlicher erkennt als Kohl, hätte auch er gegen den derzeitigen Kanzler keine Chance.

Woran liegt das?

Es ist nicht nur das vielbeschriebene "System Kohl", bestehend aus Hunderten von Freunden und Unterstützern in verschiedensten Positionen in Partei, Staat und Medien. Wenn der Bundeskanzler nicht auch noch andere Fähigkeiten hätte, würde dieses "System" gar nicht funktionieren.
Kohls eigentliche Stärke ist seine Fähigkeit, breiten Schichten gerade "kleiner" Leute Vertrauen zu vermitteln. Seine behäbige, unaufgeregte, aber fast immer immenses Selbstvertrauen ausstrahlende Art trägt dazu entscheidend bei. (Der Buddha-Vergleich von Joschka Fischer ist gar nicht so falsch.)
Und diese Eigenschaft ist auch der Grund, warum Intellektuelle und politische Analytiker schon so oft bei der Bewertung Kohls und seiner politischen Überlebenschancen falsch lagen: Sie werden durch die Übervater-Art des Kanzlers nicht angesprochen, sondern eher in die Irre geführt, weil sie Kohls Provinzialität mit Dummheit oder Beschränktheit verwechseln.
Nun tritt der Kanzler also noch einmal an. Die Chancen auf eine Wiederwahl sind zwar nicht schlecht (wenn die Demoskopie auch zur Zeit Kohl mal wieder im Tal ortet), aber immerhin kamen Union und FDP bei der letzten Wahl nur mit einem minimalen Vorsprung ins Ziel. Und bei allen Wahlen seit 1987 hat Kohl Stimmen abgeben müssen. Alles in allem dürfte die 1998-Wahl eine der spannendsten der Nachkriegszeit werden: Es besteht sogar die Möglichkeit (sicher nicht Chance!), daß es erstmals in Deutschland zu einer rein linken Mehrheit aus SPD und Grünen (und eventuell PDS) kommt.

Außenpolitische Entscheidungen

Die Gründe für Kohls Entscheidung dürften eher in der Außen- als in der Innenpolitik zu suchen sein. Der Euro, die Nato-Osterweiterung und die Reform und Vergrößerung der Europäischen Union sind allesamt politische Großprojekte und Teile der Vision des Kanzlers für ein zukünftiges Europa. Es ist schwer vorstellbar, daß der Euro ohne Helmut Kohl in Deutschland reibungslos eingeführt wird.
Doch Kohls starke Stellung im Regierungslager liegt auch an der Schwäche der Konkurrenz. Selbst der Geißler-Blüm-Flügel der Union favorisiert Kohl, weil Wolfgang Schäuble nicht zugetraut wird, die Volkspartei CDU geschlossen hinter sich zu bringen. Eine verstärkt auf innenpolitische Reformen drängende CDU wäre zwar nötiger denn je, stellte die Partei aber auch vor eine Zerreißprobe.
Und auch die CSU kann durch Kohl besser als durch jeden anderen in Schach gehalten werden - so denken jedenfalls viele in der Union, denen die immer noch exzellenten Wahlergebnisse und das starke Gewicht der Bayern nicht immer gelegen kommen.

Schwächen

Kohls Schwäche liegt in der Innenpolitik. Daß jetzt die Regierung gleichzeitig das Steuer-, Sozial- und Rentensystem reformieren und auch noch 1999 den Euro einführen will, ist weniger auf ihre Arbeitswut als auf die Verschleppung der nötigen Reformen zurückzuführen, so daß jetzt alles zusammenfällt.
Wenn man bedenkt, daß Steuerreformen, die der von der deutschen Regierung geplanten im Grundsatz stark ähneln, bereits in der Mitte der achtziger Jahre in den USA und Großbritannien erfolgreich durchgeführt wurden und inzwischen Dutzende anderer Länder diesen inspirierenden Beispielen gefolgt sind (Bemessungsgrundlage verbreitern, Ausnahmen abschaffen, Steuersätze senken), wird klar, daß die Regierung Kohl in den vergangenen Jahren viel Zeit verschenkt hat.
Paradoxerweise ist diese Konstellation für den Kanzler gar nicht ungünstig. Denn wiederum traut man nur ihm zu, diesen Reformberg halbwegs störungsfrei und ohne gesellschaftliche Brüche durchzusetzen.

Gefahren

Auch vielerlei Gefahren lassen einen Wechsel an der Spitze der Bundesrepublik zum jetzigen Zeitpunkt nicht geraten erscheinen. Die übelste Zeitbombe ist ohne Frage der Euro. Während Theo Waigel soeben vorsichtig von seiner strengen Auslegung der Konvergenzkriterien Abschied nimmt, beteuern Kohl und Chirac, der Zeitplan für den Euro müsse eingehalten werden - was der früheren Versprechung widerspricht, am wichtigsten seien die Konvergenzkriterien.
Da die Regierung dem Volk den Euro dummerweise als ökonomische Wunderwaffe verkauft, anstatt die rein politische Begründung (als "Klammer" Europas und Symbol für den Zusammenhalt der EU) endlich in den Vordergrund zu schieben, könnte es sein, daß Anfang 1998, wenn eine Währungsunion kommt (trotz verfehlter deutscher Maastricht-Kriterien und womöglich mit den "Club-Med"-Ländern Italien, Spanien und Portugal), die Bürger zutiefst verärgert reagieren und sich von der Politik verschaukelt vorkommen.
Natürlich konnte jeder Interessierte sich den Maastricht-Vertrag verschaffen und darin all jenes Kleingedruckte lesen, das auf eine rein politische Entscheidung auch über den Teilnehmerkreis hinausläuft, mit deutlicher Hintanstellung der Konvergenzkriterien. Doch wer liest schon Kleingedrucktes?
Hier steht Kohl vor einem gewaltigen Glaubwürdigkeitsproblem, das sich - besonders gefährlich - in Wahlenthaltung vieler bürgerlicher Wähler ausdrücken könnte.
Doch es wäre töricht, den Bundeskanzler zu unterschätzen. Und einen Vorwurf kann man ihm nun wirklich nicht machen: daß seine Vorstellungen von Europa schwammig oder unkonkret seien. Außerdem besitzt Helmut Kohl die hilfreiche Eigenschaft, in brenzligen Situationen zu Hochform aufzulaufen. Wenn man ihm seine langweiligen Redemanuskripte wegnimmt und ihn mit Kritikern konfrontiert, merkt man erst, wie eloquent, schlagfertig und witzig der Kanzler sein kann, wenn er will.
Aber zieht Kohl bei den Wählern überhaupt noch so wie vor Jahren? Oder sind sie ihn inzwischen einfach leid und sehnen die Veränderung der Veränderung wegen herbei? Doch auch hier bleiben als Alternativen nur die in Ehren ergrauten Lafontaine/Schröder. Auch nicht gerade Repräsentanten des Neuanfangs. Und ob sie Kohls politische Schwungkraft haben, muß doch sehr bezweifelt werden.

G.D.