Editorial

Castor-Panik

Keine Chance für den gesunden Menschenverstand?

30.000 Polizisten mußten den Transport der abgebrannten Brennelemente aus deutschen Kernkraftwerken zum Zwischenlager Gorleben sichern. Der Name des Transportbehälters "Castor" wurde zum Symbol - je nach Standpunkt - entweder für eine Atompolitik mit der Brechstange oder für einen rational nicht mehr nachvollziehbaren Protest.
Schon im Vorfeld wurden Oberleitungen demoliert, Straßen beschädigt und sogar ganze Innenstädte lahmgelegt. Und weswegen?
Weil der Sonderzug mit den atomaren Abfällen aus den Kernkraftwerken und den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien) offenbar in der Vorstellung vieler Atomkraftgegner zu einem Symbol des Bösen geworden war. Es ging längst nicht mehr um die Frage, ob nun der Salzstock in Gorleben als Zwischen- oder eventuell auch Endlagerstätte geeignet ist. Garniert mit wendländischer Folklore (Bauern dürfen nie fehlen) wurde das Ganze zum Happening gegen die Atomkraft.
Daß dabei einige hundert gewalttätige Chaoten und Randalierer ihr eigenes Fest feiern, scheint die Organisatoren des "Widerstandes" (ein völlig deplaziertes Wort) nicht zu stören, ja es gehört dazu, denn ihr Ziel, den Castor-Transport so teuer wie möglich zu machen, ist ohne latente Gewalt nicht erreichbar (wozu sonst 30.000 Polizisten?).
Das Verrückte bei der ganzen Sache ist, daß die Zwischen- und Endlagerung abgebrannter Kernbrennstäbe im Grunde nichts mit dem Ausstieg aus der Kernenergie zu tun hat. Selbst die Grünen haben erhebliche logische Probleme. Die zum linken Flügel zählende Sprecherin der Bundestagsfraktion Müller erklärte, sollte die Bundesregierung aus der Kernenergie aussteigen, werde man sich an der Suche nach einem Endlagerkonzept beteiligen.
Mit anderen Worten: Selbst wenn von heute auf morgen alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden (was technisch und juristisch nicht geht), bliebe uns das Entsorgungsproblem erhalten. Sollten SPD und Grüne die nächste Bundestagswahl gewinnen, müßte vielleicht ein grüner Umweltminister den nächsten Castor-Transport anordnen - eine der wenigen Aussichten, die einen Machtwechsel in Bonn reizvoll erscheinen ließe.
Denn andere Lösungen sind weit und breit nicht in Sicht. Der Vorschlag der Lagerung der Brennelemente in den Kernkraftwerken selbst hört sich komisch an aus Mündern, die sonst die Sicherheit derselben Kraftwerke vehement bezweifeln.
Umweltministerin Merkel bemüht sich seit geraumer Zeit, ein weiteres Zwischenlager im süddeutschen Raum zu etablieren. Doch die geologischen und politischen Probleme scheinen unüberwindlich.
Nach dem Aus für die Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf läßt die deutsche Atomindustrie (die übrigens pikanterweise zu einem nicht kleinen Teil der öffentlichen Hand gehört, so etwa die Stromerzeuger RWE und VIAG/Bayernwerke) ihre Abfälle nun in La Hague und Sellafield aufbereiten. Zu diesem Zweck finden pro Jahr etwa 60 bis 80 Castor-Transporte statt. Dabei gibt es kaum Gegendemonstrationen - was verwunderlich ist, denn nach den Argumenten der Castor-Gegner ist jedes Herumkutschieren des Atommülls ein unvertretbares Risiko.
Das zeigt zweierlei: Die Castor-Hysterie um Gorleben ist weitgehend künstlich erzeugt; und die Strategen in der Anti-Atom-Bewegung verzetteln nicht ihre Kräfte, sondern konzentrieren ihre Aktionen auf das besonders symbolträchtige Gorleben, den offenbar schwächsten Punkt der Atomwirtschaft in Deutschland, wo eine unmutige Bevölkerung das passende Lokalkolorit abgibt.
Was passiert eigentlich, wenn Deutschland wirklich aus der Kernenergie aussteigt? Nach Angeben der Kernenergiebetreiber (deren Argumente man nur ja nicht verwenden darf, wenn man dem Vorwurf entgehen will, man stehe "im Sold der Atomlobby") vermeidet der Einsatz der deutschen Kernkraftwerke etwa ein Sechstel des deutschen Kohlendioxyd-Ausstoßes. Zur Erinnerung: Nach der Rio-Klimakonferenz hat sich Deutschland verpflichtet, in absehbarer Zeit den Kohlendioxyd-Ausstoß um 15% zu senken. Will man das etwa, indem man zusätzlich Kohle- und Ölkraftwerke wieder ans Netz nimmt, die Kohlendioxyd in Massen verschleudern? Und wo sind denn endlich die alternativen Energien, die auch preislich mit der Kernkraft konkurrieren können?
Alle fordern zur Zeit einen Energiekonsens. Mal angenommen, er kommt wirklich, dann ist ein Ausstieg aus der Kernkraft keineswegs wahrscheinlich, höchstens ein Zurückfahren oder ein sehr langfristiges Auslaufen. Und dann? Wird dann in Gorleben nicht mehr demonstriert? Werden die Castor-Behälter dann durchgelassen? Hängt die "Betroffenheit" der Demonstranten lediglich davon ab, ob sie auf der politischen Bühne Punkte sammeln können? Es sieht so aus. Man sollte vielleicht auch daran erinnern, daß der Castor-Transport ebenfalls auf einen Energiekonsens aus dem Jahr 1979 zurückgeht, als Helmut Schmidt (SPD) noch Bundeskanzler war.
Ein anderes Problem berührt die deutsche Demokratie ganz massiv. Eine demokratisch legitimierte Regierung hat einen sachlich nachvollziehbaren Beschluß gefaßt. Die Durchsetzung dieses Beschlusses wird ihr mit teilweise illegalen Mitteln extrem erschwert. Gewählte Volksvertreter und nicht Gewalttäter und ihre Sympathisanten müssen die Politik in Deutschland bestimmen. Daher muß man - schon aus prinzipiellen Gründen - hoffen, daß Castor-Transporte auch in Zukunft durchgesetzt werden können.

G.D.