Editorial

Wer kommt nach Jelzin?

oder: Wie kann das größte Land der Erde zur Demokratie finden?

Wenn heutzutage in den Nachrichten von Rußland die Rede ist, dreht sich mindestens jede zweite Meldung um den Gesundheitszustand des Präsidenten. Nach einer überstandenen Herzoperation zog er sich neuerdings eine Lungenentzündung zu. Wie schlecht es tatsächlich um Jelzin bestellt sein muß, zeigt die Tatsache, daß bei dieser Erkrankung die Pressesprecher des Kreml erstmals nicht versuchten, den Zustand des Präsidenten schönzureden. Angesichts des alarmierenden Zustands stellt sich die Frage, wer nach Jelzin in Rußland regieren wird.

Katastrophal

Die Tatsache jedoch, daß den "Russen auf der Straße" die Gesundheit und Krankheit Jelzins gar nicht mehr interessiert, könnte die Frage aber auch anders lauten lassen: Wann wird Rußland überhaupt mal wieder regiert? Die Lage im größten Nachfolgestaat der UdSSR ist tatsächlich verheerend: Millionen von Russen werden immer ärmer, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus breiten sich aus, in den großen Städten gibt es Hunderte von Straßenkindern, die sich mit Betteln und Stehlen über Wasser halten, die Gewalt in den Familien und auf den Straßen nimmt immer weiter zu, die Wirtschaft liegt danieder. Während eine Minderheit vom Zusammenbruch des Kommunismus profitiert hat, kämpft die Mehrheit ums blanke Überleben.
Worin liegen die Gründe? Nach dem Zusammenbruch des alten Systems konnte das entstan-dene Vakuum in der Wirtschaft und im Staat nicht rechtzeitig mit neuen Werten und Zielvorstellungen gefüllt werden. Die zum größten Teil maroden alten Staatsbetriebe entließen Arbeitskräfte, um wirtschaftlich produzieren zu können. In den Führungsetagen der Wirtschaft, wo sich viele alte Seilschaften halten konnten, ist Korruption keine Seltenheit. Zusätzlich zu dem Heer von Arbeitslosen kommen die Truppen, die nach dem Ende des Kalten Kriegs aus Osteuropa abziehen mußten. Sie sind zum Teil bisher nur notdürftig untergebracht und suchen nach einer neuer Aufgabe.

Starker Mann

In Anbetracht der Tatsache, daß Rußland immer noch über Atomwaffen verfügt, muß der Rest der Welt ein Interesse daran haben, daß die politische Lage in Rußland stabil bleibt. Beste Voraussetzung dafür wäre ein demokratisches System mit einer funktionierenden Marktwirt-schaft. Doch davon ist das größte Land der Erde noch weit entfernt. Zwar können die letztjährigen Wahlen, mit denen Boris Jelzin im Amt bestätigt wurde, durchaus als frei gelten. Doch zeigt das Spektrum der Bewerber um dieses Amt und auch die Besetzung des vom Volk gewählten Parlaments mit vielen Extremisten von rechts und links, daß eine wirklich demokratische Gesinnung in der Bevölkerung noch nicht verankert ist.
Wie auch? "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", sagte schon Bertolt Brecht. Bis jetzt hat das gemeine Volk durch den Wandel im Land mehr Nachteile denn Vorteile gehabt. Die Versprechen von Politikern wie Jawlinski, die auch nach westlichen Maßstäben als Demo-kraten gezählt werden können, scheinen niemanden zu interessieren. Man sucht nach dem starken Mann, der erst einmal geordnete Verhältnisse schafft. Von Boris Jelzin hatte man sich dies erwartet, deswegen wurde er wiedergewählt. Ex-General Alexander Lebed, der den Krieg in Moldawien und neuerlich auch den Konflikt in Tschetschenien beendete, bekam aus diesem Grund soviele Stimmen. Ein Ende des gegenwärtigen Chaos werden sich auch die Wähler des Kommunisten Sjuganow erhofft haben.
Wer kommt also nach Jelzin? Nach den Ergebnissen der letztjährigen Präsidentschaftswahl wird es wohl auf eine Entscheidung zwischen Lebed und Sjuganow herauslaufen. Beide sind erklärtermaßen keine Demokraten, für den Westen daher eigentlich nur zweite Wahl. Das russische Volk (oder der Teil, der noch zur Wahl gehen wird) wird den wählen, dem es zutraut, mit dem gegenwärtigen Chaos aufräumen zu können. So oder so. Damit muß sich der Westen abfinden.

M.W.