Satire

Diplomatischer Eiertanz

Oder: Wie traditionell gute Beziehungen zu anderen Staaten liebevoll gepflegt werden

Bonn, Kanzleramt. Weit nach Mitternacht. Nach der Streichung von insgesamt 18 Milliarden DM im Sozialetat, der Verschrottung von 180 Leopard 2 und dem dreiviertelstündigen Streit über die Farbe der neuen Papierkörbe im Postministerium wendet sich das Kabinett1 dem Tagesordnungspunkt 103 (Verschiedenes) zu.
Es klopft. Ohne zu warten, betritt ein Mitarbeiter des Pizzaservice "Ravioli" den Raum mit 30 leicht dampfenden, flachen Pappschachteln im Arm. Acht davon und die Rechnung werden vor Bundeskanzler Kohl aufgebaut.

Kohl (schiebt die Rechnung an Waigel): Der da ist zuständig.
Waigel (begutachtet entsetzt die Rechnung, zückt das Portemonnaie und bezahlt. Nachdem der Lieferant den Raum verlassen hat): Tja, Volker, tut mir leid. Das macht jetzt 181 Leos.
Rühe (sauer): Pizza? Ich verzichte. Dann kannst du mir wenigstens nicht an der Munition herumstreichen! Wo sind wir denn hier? Was ist mit den leckeren Häppchen aus der Kantine ...
Rexrodt: ... und dem Schampus?
Waigel: Auch eingespart.
Bohl: Wir haben ja sogar die Las-Vegas-Reisen der Bundestagsabgeordneten gestrichen. Schließlich müssen wir selbst auch Opfer bringen.
Rüttgers: Und bisher hat sich ja auch nur ein gewisser Oberstaatsanwalt außer Diensten darüber aufgeregt. Alle bis auf den weiter weiter hungrigen Rühe essen hastig.
Kohl (mampfend): Also, Punkt 103, Verschiedenes.
Kinkel (zögernd): Vielleicht sollten wir einmal grundsätzlich die deutsche Nahostpolitik besprechen. Immerhin haben einflußreiche Kräfte im Iran deutschen Staatsanwälten mit einem Todesurteil gedroht. Wie gegen Salman Rushdie.
Nolte: Salman wer?
Bohl: Rushdie, na der Typ, der Schreiberling, der dieses Buch geschrieben hat - "Nicht ohne meine Tochter", glaube ich -, aber das war, als du noch in der DDR zur Schule gingst.
Schmidbauer: Der, für den wir das Computerprogramm mit den standardisierten Protestfaxen an die iranische Botschaft installiert haben.
Kanther: Lebt der eigentlich noch?
Schmidt-Jortzig: Allerdings, und verkauft sich besser denn je.
Kanther: Wenn er noch lebt, wo ist dann das Problem?
Kinkel: Wir können es als Bundesrepublik Deutschland, als souveräner, freiheiticher, selbstbewußter, demokratischer, liberaler Rechtsstaat nicht hinnehmen ...
Kohl: Hör' doch auf mit der dem Gesülze. Erstens ist das mein Sprüchlein, zweitens kennen wir das alle auswendig, und drittens beginnt der Wahlkampf erst in zwei Jahren.
Kinkel (leicht sauer): Kurz: Die wollen unsere Staatsanwälte plattmachen oder eine Entschuldigung von uns. Wir wollen weiterhin traditionell gute Beziehungen.
Bohl: Müssen wir uns denn entschuldigen?
Schmidt-Jortzig: Nein! Erstens sind wir nicht zuständig, denn die Bundesanwälte sind entweder tot oder unabhängig ...
Waigel (leise zu Seeofer): Das muß ich mir merken, wenn die FDP wieder den Generalbundesanwalt auf ihr Ticket haben will.
Schmidt-Jortzig (unbeirrt): ..., und zweitens ist das eine Sache der Justiz, auf die wir keinen Einfluß nehmen.
Blüm: Na, da können wir ja endlich nach Hause gehen.
Kinkel (leicht genervt): Nein, da gibt's nämlich ein Problem. Wenn wir uns nicht entschuldigen, bringen die die Bundesanwälte um und - was noch viel schlimmer ist - brechen die diplomatischen Beziehungen ab.
Rexrodt: Das wär' ja noch zu verkraften. Aber sie werden wahrscheinlich die vielen Großaufträge stornieren.
Kohl (plötzlich alarmiert): Du hast recht. (An Bohl) Gib' mir die Telefonnummer von diesem Bundesanwalt. Dem werden wir schon klarmachen, daß er die Unabhängigkeit der Justiz nicht auf dem Rücken von deutschen Arbeitern austragen kann!
Blüm: Denk' an die soziale Verantwortung!
Kanther: STOP! Sollen wir uns etwa erpreßbar machen?
Kinkel: An diesem Punkt der Diskussion waren wir im Planungsstab des Außenministeriums auch schon.
Schmidt-Jortzig: Wie ist das eigentlich: Haben wir nicht auch traditionell gute Beziehungen zum Irak? Und zu Saudi-Arabien? Und zu Israel? Und zu Bahrein?
Kinkel: Eben. Wir müssen unsere verschiedenen traditionellen Freundschaften unter einen Hut bringen.
Rexrodt: Und dabei auf die Aufträge achten! Alle stimmen nickend zu
Nolte: Aber ich dachte immer, in der Außenpolitik gelte, der Feind meines Feindes sei mein Freund. Und umgekehrt.
Kinkel (herablassend): So einfach ist das nicht. Zum Beispiel: Wir sind traditionell Freund der USA, die USA wiederum sind der Feind des Irak, der Irak ist der Feind des Iran. Folglich sind wir der Freund des Feindes des Feindes des Iran, also der Freund des Iran.
Nolte: Aber wir sind doch auch der Freund des Irak, Irak ist der Feind des Iran, der Iran ist der Feind Israels, also müßten wir als Freund des Feindes des Feindes Israels Israels Freund sein! (verwirrt) Huch, das sind wir ja tatsächlich!
Kinkel: Tja, das ist Diplomatie.
Nolte (erregt): Aber als Freund des Feindes der USA müßten wir doch auch Feind der USA sein.
Kinkel: Da zeigt sich eben die Genialität der deutschen Außenpolitik: Da wir nicht nur Freund des Feindes der USA, sondern auch Freund des Feindes des Feindes der USA sind, sind wir logischerweise auch Freund der USA.
Bohl: Da sage noch einer, du hättest von Genscher nichts gelernt!
Kohl: Der hat doch auch nur von Bismarck geklaut.
Blüm: Wir sind immer mit beiden Seiten befreundet. Dadurch hebt sich jede Feindschaft gegen uns von selbst auf.
Kohl (klingelt): Also was passiert jetzt mit unserem kleinen Problem? Lassen wir uns nun erpressen oder nicht? Was soll ich meinem Freund Ali Akbar Hashemi Rafsanjani sagen?
Kinkel: Na, ganz einfach. Wir sollten, um Iran zu beschwichtigen, ihnen entgegenkommen. Logisch und kühl betrachtet, stellt sich die Lage völlig klar dar: Der Feind Irans ist Irak, der Feind Iraks die USA, deren Feind wiederum Libyen ist. Ergo ist Libyen Feind des Iran. Entweder können wir die Beziehungen mit Libyen abbrechen ...
Rexrodt: ... Nur nicht! Denk' an das Öl und unseren Absatzmarkt für die chemische Industrie!
Schmidbauer: Du meinst Giftgasfabriken?
Kinkel: ... oder einem mit Libyen befreundeten Staat die Freundschaft aufkündigen.
Rüttgers: Vielleicht der Türkei?
Kinkel: Siehst du kein Fernsehen? Gadafi ist doch der Freund der Kurden und also der Feind der Türkei.
Nolte: Ist doch ganz einfach: Dann laß' uns eben die Beziehungen zu den Kurden abbrechen ...
Kanther (positiv überrascht): Genau!
Nolte: ..., dann hätten wir nicht nur das Problem mit dem Iran vom Tisch geschafft, sondern auch gleich mit den kurdischen Unruhen auf deutschem Gebiet aufgeräumt.
Kohl: Hört sich alles ganz gut an, aber leider haben die Kurden keinen eigenen Staat, zu dem wir irgendwelche diplomatische Beziehungen abbrechen könnten ... (schluckt) Die Pizzen waren aber ziemlich ....
Blüm (wie vom Blitz getroffen): Pizza, Mafia, Italien! Das ist es! Wir brechen die Beziehungen zu Italien ab. Die sind traditionell mit Libyen befreundet, und Gadafi besaß sogar mal ein großes Paket Fiat-Aktien.
Rühe: Und nie wieder Pizza!
Waigel: Nie wieder Pizza? (zückt seinen vergoldeten Rotstift) Na dann 182 Leos, Volker! Der Grieche um die Ecke ist viel teurer.

Erläuterungen:

Helmut Kohl (CDU) ist der Chef.
Friedrich Bohl (CDU) ist Bundesminister und Chef des Kanzleramtes.
Klaus Kinkel (FDP) ist Außenminister.
Volker Rühe (CDU) ist Bundesverteidigungsminister.
Günter Rexrodt (FDP) ist Bundeswirtschaftsminister.
Manfred (Hannibal) Kanther (CDU) ist Bundesinnenminister.
Norbert Blüm (CDU) ist Bundesarbeitsminister.
Bernd (008) Schmidbauer (CDU) ist Staatsminister im Kanzleramt und für die Geheim- dienste zuständig.
Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) ist Bundesjustizminister.
Claudia Nolte (CDU) ist Bundesministerin für alle außer den ledigen, alleinstehenden Männern zwischen 30 und 60 (Jugend, Familie, Frauen und Senioren)
Theo Waigel (CSU) ist Bundesfinanzminister.
Horst Seehofer (CSU) ist Bundesgesundheitsminister.
Jürgen Rüttgers (CDU) ist Zukunftsminister und Beschwörer der allwissenden Kristall- kugel.
Hojatoleslam Ali Akbar Hashemi Rafsanjani (parteilos) ist Präsident der Islami- schen Republik Iran.
Oberst Muammar Al-Gadafi ist Buchautor und nebenberuflich seit 27 Jahren libyscher Revolutionsführer.
Salman Rushdie ist Buchautor und gezwungenermaßen ohne festen Wohnsitz.
Oberstaatsanwalt a.d. Johannes Singer (SPD) ist bald nichts mehr.

MiWi / G.D.