Politik

Die Kleinen müssen hängen - Die Großen auch!

Verfassungsgericht bestätigt: Der Schießbefehl war Unrecht

Wie kann man Unrecht aufarbeiten, das unter einer Diktatur begangen wurde? Bereits einmal in diesem Jahrhundert stellte sich diese Frage den Deutschen. Die Sühne für die während der Nazizeit von Staats wegen begangenen Verbrechen war nur sehr unvollständig erfolgt. Für die Opfer, die die Hitler-Zeit überlebt hatten, war es schon starker Tobak, daß viele ihrer Peiniger von damals ungestraft blieben und womöglich wieder hohe Ämter in der Öffentlichkeit bekleideten.
Ähnliche Befürchtungen kamen nach dem Zusammenbruch der DDR auf. Wie sollte man die Urheber und Vollstrecker von Mauer, Schießbefehl und Stasi zur Verantwortung ziehen? Dabei ist die rechtliche Lage zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch verzwickter als unmittelbar nach dem Krieg. Damals oblag die Rechtsprechung nicht einem deutschen Gericht, sondern sie wurde von der Militärjustiz der Alliierten wahrgenommen. Die Kriegsverbrechertribunale konnten die Nazi-Schergen wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" aburteilen.

Einspruch...

Heute dagegen soll die Justiz der Bundesrepublik Deutschland Recht sprechen über die Taten, die in der DDR begangen worden sind. Und im Grundgesetzartikel 103 eben dieser Bundesrepublik steht unter Absatz 2: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Wie soll man da gegen Mauer und Schießbefehl angehen, die ja offizielles DDR-Recht waren? Darauf beriefen sich hohe DDR-Politiker, wie der ehemalige Verteidigungsminister Heinz Keßler, sein Stellvertreter Fritz Streletz und der ehemalige Suhler SED-Chef Hans Albrecht, und ein früherer DDR-Grenzsoldat. Die Politiker waren im September 1993 vom Berliner Landgericht wegen Anstiftung oder Beihilfe zum Totschlag zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Der Soldat erhielt eine Jugendstrafe wegen Tötung eines Flüchtlings an der Berliner Mauer. Nachdem der Einspruch der Verurteilten vom Bundesgerichtshof abgelehnt worden war, erhoben sie Verfassungsbeschwerde.

...abgelehnt

Über diesen Einspruch entschied das Karlsruher Bundesverfassungsgericht im November. Auch dort sah man die Schuld der Verurteilten als erwiesen an. Zwar sei das Grenzregime DDR-Recht gewesen. Dennoch könne das Rückwirkungsgebot des Grundgesetzes hier nicht angewandt werden, da das DDR-Recht den vom Verfassungsgericht als höherwertig eingestuften allgemeinen Menschenrechten widersprochen habe. Schließlich habe auch die DDR diese Grundrechte anerkannt. Von daher haben sich die Urheber des DDR-"Rechts" strafbar gemacht.
Auch der Mauerschütze, der den Schießbefehl vollstreckt hat, hat nach Auffassung des Verfassungsgerichts eine Strafe verdient. Er hätte die Rechtswidrigkeit des Befehls seiner Vorgesetzten erkennen müssen. Die Tötung eines unbewaffneten "Grenzdurchbrechers" per Dauerfeuer widerspreche der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Nun müssen die Verurteilten zur Haft antreten. Mit dem Karlsruher Spruch wird auch der Prozeß gegen ein weiteres ehemaliges SED-Politbüromitglied, den Honecker-Nachfolger Egon Krenz, ein anderen Verlauf nehmen, als er gehabt hätte, wenn der Verfassungsbeschwerde von Keßler, Streletz und Co. stattgegeben worden wäre. Ebenso werden nun die rund 400 Ermittlungsverfahren gegen weitere mutmaßliche Mauerschützen fortgeführt werden. Wegen der unklaren Rechtslage hatte man das Urteil der Verfassungsrichter abgewartet.

Nur ein Teil des Unrechts

Mauer und Schießbefehl sind eine Seite des DDR-Unrechts. Auf der anderen Seite gilt es aber auch noch, die Untaten der Stasi sowie die psychische und physische Folter in den DDR-Gefängnissen aufzuarbeiten. Immerhin stehen dort ja noch Größen des jetzigen politischen Lebens wie der PDS-Wortführer Gregor Gysi oder der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) in Verdacht. Eines jedenfalls ist festzuhalten: Völlig zahnlos ist der Rechtsstaat gegen das DDR-Unrecht nicht.

M.W.