Leverkusen

Rufschädigende Bravheit

Oder Zensur bei den Jusos?

"Die Rote Depesche" ist weder das Zentralorgan der KPD aus dem Jahr 1919 noch das Telegramm von Bismarck, das den deutsch-französischen Krieg 1870 auslöste, sondern die neue Zeitschrift der Leverkusener Jusos.
Auf 12 Seiten und mit einer Auflage von 1000 Stück versuchen die Jungsozialisten, ihre Ideen unters Volk zu bringen. Wer jetzt von uns hämische Worte erwartet, wird enttäuscht. Schließlich wissen wir, wie schwierig es ist, die Herausgabe einer solchen Zeitschrift durchzuhalten. Und ein bißchen Konkurrenz dürfte POLITEIA nur guttun.
Was hingegen wirklich erschreckt, ist die Harmlosigkeit des Blattes. Wir hatten ätzende Polemik, Angriffe auf die Bundesregierung, Darstellung eigener Positionen und Attacken auf die eigenen Leute erwartet. (Der "Bringer", Vorgänger der "Roten Depesche", hat solche Erwartungen zumindest ansatzweise erfüllt.)
Statt dessen ist die "Rote Depesche" inhaltlich und stilistisch etwa so aufregend wie eine Rau-Rede bei einer Grundsteinlegung. Die Jusos haben offenbar über den Großen Lauschangriff diskutiert. Schön. Sie haben für Obdachlose gesammelt. Nett. Sie berichten über das Maifest des SPD-Ortsvereins Rheindorf/Hitdorf. Gähn. Und sie plädieren für sportliches Engagement. Tja.
Nur ein Artikel läßt etwas aufmerken: Dort wird die jüngste Kritik des SPD-Ratsherrn und Bundestagsabgeordneten Singer an der verbandlichen Jugendarbeit ziemlich scharf, zumindest jedoch mit gewisser Verstimmung, zurückgewiesen.
Offenbar sind die Jusos im Rahmen ihrer Einsichtsfähigkeit mit aller Gewalt auf dem Boden der politischen Vernunft gelandet.
Oder hat die extreme Harmlosigkeit der "Roten Depesche" andere Gründe? Klar, die Zeiten, in denen man in Juso-Publikationen seine Marxismus-Kenntnisse auffrischen konnte, sind längst vorbei. Aber ist es für Jugendorganisationen nicht völlig unnatürlich, in ihren Zeitungen Teile des Grundsatzprogramms der Mutterpartei in Fortsetzungen ("Inhalte sozialdemokratischer Politik, Folge 1: Zur Rolle des Staates") abzudrucken? Könnte es sich dabei nicht um einen stummen Protest der Redaktion gegen die Zensur der Partei handeln?
Wie die Faust aufs Auge paßt da der letzte (etwas unglücklich formulierte) Absatz auf Seite 12, in den man mit etwas Bosheit den Aufruf an die SPD hineinlesen kann, die Jusos zu "wirklich mündigen Staatsbürgern" zu machen.
Unter der Überschrift "Frecher als die Partei erlaubt" wird demnächst ein Vorstellungsheft der Leverkusener Jusos erscheinen. Zu behaupten, daß die Frechheit der "Roten Depesche" mehr ist, als die Partei erlaubt, wäre allerdings eine grobe Verleumdung der Sozialdemokratie. Doch dieser Eindruck kann entstehen. Die SPD hat ein ganz neues Problem: Wie schützt sie sich vor der rufschädigenden Bravheit der Jusos?

G.D.