Politik

Der Fall Viessmann

Die IG Metall klagt gegen ein "Bündnis für Arbeit"

Der hessische Heiztechnik-Hersteller Viessmann, mit 1,7 Milliarden DM Umsatz und 6500 Mitarbeitern in 10 Werken eine der größeren Firmen seiner Branche, wollte eine neue Produktionsstätte für Gasthermen errichten. Zuerst plante Firmenchef Martin Viessmann das Werk offenbar in der Tschechischen Republik. Er hätte damit einen Weg eingeschlagen, den bereits viele vor ihm gegangen sind.

Doch Viessmann hatte eine Idee und unterbreitete diese dem Betriebsrat: Die 3700 Mitarbeiter im Stammwerk Allendorf sollten vom 1. Mai 1996 an drei Jahre lang für denselben Lohn 38 statt 35 Stunden arbeiten. Im Gegenzug sicherte Viessmann den Beschäftigten Arbeitsplatzsicherheit zu - und den Bau der neuen Fabrik in Deutschland.


96 Prozent Zustimmung

Die Gasthermenproduktion würde hier etwa 250 Arbeitsplätze schaffen. Der mehrheitlich von unorganisierten Arbeitnehmervertretern beherrschte Betriebsrat stimmte dem Konzept zu.
Da Viessmann jedoch tarifgebunden ist und daher den Regelungen über Arbeitszeit und Lohnhöhe des Flächentarifvertrages unterliegt, versuchte man das Unterfangen durch eine sogenannte "Regelungsabrede" mit jedem einzelnen Arbeitnehmer durchzusetzen. Und tatsächlich unterschrieben 96% der Viessmann-Belegschaft.
Alles wäre vermutlich als Beispiel für Flexibilität und Opferbereitschaft in die Annalen eingegangen, wenn nicht die IG Metall nun beim Arbeitsgericht Marburg Klage gegen das Unternehmen Viessmann einerseits und den nichtorganisierten Teil des Betriebsrates andererseits eingereicht hätte.
Die IG Metall verlangt von Viessmann den Verzicht auf die Regelung, die dem Tarifvertrag widerspreche. Doch in erster Linie zielt die Gewerkschaft auf den Betriebsrat. Dessen Pflicht sei es, dafür zu sorgen, daß Tarifverträge eingehalten würden. Das Vorgehen des Viessmann-Betriebsrates verstoße gegen das Betriebsverfassungsgesetz. Daher beantragt die IG Metall vom Arbeitsgericht die Absetzung dieser "Kollegen".
Die 96% Zustimmung zur "Regelungsabrede" sieht die IG Metall als "Nötigung".


Genötigt?

In der entscheidenden Betriebsrats-Abstimmung hatten 14 Betriebsräte das Konzept gutgeheißen und die neun in der IG Metall organisierten Mitglieder abgelehnt. Nach Firmenangaben beträgt der Organisationsgrad bei Viessmann etwa 10%.
Man macht es sich vermutlich zu einfach, der IG Metall einfach arbeitsplatzzerstörerische Sturheit vorzuwerfen. Würde das Beispiel Viessmann Schule machen, wären die Flächentarifverträge praktisch nichts mehr wert. Und natürlich ist die Gefahr der Nötigung der Arbeitnehmer durch die Unternehmer nicht von der Hand zu weisen.
Andererseits: Die Flächentarifverträge sind längst nicht so viel wert, wie Lärm und Kampfgeschrei während der Aushandlungszeit vorgaukeln. In einer starken Minderheit der Metallbetriebe in Deutschland wird mit stummer Duldung der IG Metall längst untertariflich bezahlt, um die Betriebe am Leben zu halten. (Auch in Leverkusen kennt man das.)


Bröckelnde Fronten

Und immer mehr Firmen treten aus dem Arbeitgeberverband aus, um mit dem Betriebsrat Haustarifverträge abzuschließen. Jüngstes und prominentestes Beispiel: Das thüringische High-Tech-Unternehmen Jenoptik, dessen Chef Lothar Späth die weitgehende Angleichung der Ost- an die Westlöhne als ruinös empfindet. Was Viessmann angeht: Hier sind wohl zu viele heilige Gewerkschaftskühe geschlachtet worden, als daß man von der IG Metall Stillhalten erwarten konnte. Die mühsam erkämpfte 35-Stunden-Woche wird eliminiert; die Mehrarbeit wird nicht entlohnt (ein realer Lohnverzicht von etwa 8%); der Tarifvertrag wird umgangen, und das ganze auch noch von Nicht-IG-Metallern. Wer in dieser Frage formal recht hat, wird das Gericht entscheiden - man darf gespannt sein. Ob Viessmann tatsächlich nur durch den Verzicht der Belegschaft bewogen wurde, die Gasthermenfabrik in Deutschland zu bauen, und ob Viessmanns Einsparung an Lohnkosten in Deutschland nicht möglicherweise den Kostenvorteil einer tschechischen Gasthermenfabrik überkompensiert, kann man als Außenstehender natürlich nicht beurteilen. Aber das "Bündnis für Arbeit" `a la Viessmann würde in jedem Fall Arbeitsplätze in Deutschland retten und/oder schaffen.


Drang ins Ausland

Das Hoffnungsvolle an der berühmten "Bündnis-für-Arbeit-Rede" des IG-Metall-Chefs Klaus Zwickel war das indirekte Eingeständnis, daß zu hohe Löhne in Deutschland Arbeitsplätze kosten können. Für einen Gewerkschafter eine tiefe Erkenntnis, für Otto Normalzeitungsleser eine Banalität, für die sich Beispiele en masse aus dem Ärmel schütteln lassen: Siemens baut eine Chipfabrik in England, Mercedes das Swatch-Mobil in Lothringen (Frankreich), BMW und Mercedes ihre neuen Roadster in den USA, Audi seine Motoren in Ungarn, VW und Ford ihre neue Großraumlimousine in Portugal - und Viessmann selbst hat ebenfalls eine Fabrik in Lothringen. (Interessanterweise wird vorzugsweise gar nicht so stark in Billiglohn-, sondern in westlichen Nachbarländern investiert.) Selbst die neue A-Klasse von Mercedes, die 1997 auf den Markt kommen soll, wird nur deswegen in Deutschland gebaut, weil dem Betriebsrat, diesmal mit Segen von oben, erhebliche Zugeständnisse abgerungen werden konnten. Zudem ist eine zweite Fabrik in Brasilien im Gespräch. Daher macht bei aller Vorsicht in der Beurteilung das Verhalten der Gewerkschaft im Fall Viessmann den Eindruck, daß hier längst verlorenes Terrain krampfhaft und womöglich auf Kosten der Arbeitnehmer verteidigt werden soll. Es wäre für alle fatal, wenn am Ende dieser Auseinandersetzung Entlassungen in Deutschland und eine weitere Auslandsinvestition in Tschechien stehen würden. Und auch die IG Metall würde sich damit schwer schaden, selbst wenn sie an unorganisierten Arbeitnehmern ein Exempel statuiert hätte - ein Exempel, das ihr herzlich wenig nutzt, wenn die Jobs flötengegangen sind.

G.D.