Politik

Müntefering: "Voll befriedigend"

Von der Kunst, Wahlergebnisse zu deuten

Am 24.03.96 um 19.30 Uhr war es soweit: Spitzenvertreter von allen im Bundestag vertretenen Parteien hatten sich wieder einmal zur obligatorischen Elefantenrunde im ZDF-Studio Bonn versammelt. Und wieder einmal bewahrheitete sich der Text des von Reinhard Mey verfaßten Liedes "Wahlsonntag". Da verkündete der breit grinsende SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering, die Verluste der SPD von 6,4% in Schleswig-Holstein (SH), 5% in Rheinland Pfalz (RP) und 4,3% in Baden-Württemberg (BW) seien voll befriedigend. Die SPD befinde sich eindeutig in einem Aufwärtstrend. Spätestens hier muß der normale Wähler von einem Eklatanten Verlust an Realitätssinn ausgehen, denn wer noch nicht einmal in dieser Stunde eine Niederlage zugeben kann, wirkt in der Politik äußerst unglaubhaft.
Im Gegensatz dazu zeigte sich der glücklose Dieter Spöri in BW viel verantwortungsbewußter, indem er das schlechteste Ergebnis der SPD in BW (25,1%) aller Zeiten auf sich nahm und den Rücktritt erklärte. Daß aber auch die beiden anderen Landesverbände erhebliche Verluste hinnehmen mußten, zeigt, daß die SPD in einer ihrer schwersten Krisen der Nachkriegszeit steckt. Daran konnte auch und gerade der mit Pauken und Trompeten zum Parteivorsitzenden gewählte Saarländer Oskar Lafontaine nichts ändern.
Gerade der durch seinen Linkskurs in der SPD gefürchtete PDS-Sympathisant hat seiner Partei durch seine unheilvolle Aussiedlerdebatte einen großen Bärendienst erwiesen. Wie sonst sind die starken Abweichungen gegenüber den Prognosen zu erklären, die die Verluste der SPD noch wesentlich geringer einschätzten?
Die CDU hingegen hat zumindest verhaltenen Anlaß zur Freude. So konnte sie trotz unzähliger ungelöster Probleme im Bund (Arbeitslosigkeit, Staatsfinanzen, Sozialversicherungen usw.) zumindest in zwei Bundesländern Gewinne verzeichnen. Das sollte aber nicht in Selbstbeweihräucherung enden, sondern ist weitestgehend auf die Unfähigkeit der Opposition zurückzuführen. Daneben waren sicher auch die Kurdenkrawalle der letzten Wochen und die mit Erfolg geschürte Angst vor Rot-Grün (mit freundlicher Unterstützung der Landesregierung NRW) hilfreich. Besonders der in BW überall plakatierte Spruch "Unser Land, zu schade für Rot-Grün" hat wohl gut gewirkt, was aber auch der FDP sehr gut bekommen ist. Die schon totgesagte und fast in Flügelkämpfen erstickte Mittelpartei hat wieder einmal den Weg zurück gefunden, und zwar im Triumphzug. Mit nicht nur einer Behauptung, sondern einer Stärkung der Ergebnisse der letzten Wahlen haben wohl nur die wenigsten gerechnet. Dabei bleibt aber die Frage offen, ob sich die FDP negativ als Rot-Grün Verhinderungspartei oder doch mehr positiv über konkrete Inhalte wie Steuersenkung definiert. So gibt die Anzahl der Leihstimmen aus der CDU (in RP auch der SPD) von etwa 50% doch zum Nachdenken Anlaß. Das bedeutet nämlich, daß die FDP praktisch nur durch Leihstimmen überleben kann, was ihr zumindest diesmal besser gelungen ist als vorher. So bestehen die FDP-Wähler in RP zu 34% aus eigentlichen CDU-Anhängern, die mit ihren Stimmen ärgerliche Experimente von Rot-Grün vermeiden wollen und dafür eine sozialliberale Koalition in Kauf nehmen.


Was ändert sich?

In der politischen Praxis wird sich zunächst einmal die Regierung in BW ändern. Dort wird eine CDU/FDP-Regierung die Macht übernehmen und damit auch für 6 Stimmen im Bundesrat sorgen. Daneben tritt Spöri zurück und die SPD-BW wird sich eine neue Führungspersönlichkeit suchen müssen, um wieder zu einer echten Volkspartei zu werden. Das Musterländle wird damit vorerst zu seiner stillen aber erolgreichen wirtschaftsnahen Politik der letzten 40 Jahre zurückkehren.
In RP wird sich vorerst nicht viel ändern. Obwohl die Mehrheit der FDP-Wähler auch hier lieber eine rechnerisch mögliche CDU/FDP-Koalition sehen würde, wird die sozialliberale Koalition mit leicht verschobenen Gewichten weiterbestehen. Um den wenig erfolgreichen CDU-Spitzenkandidaten (unveränderte 38,7% in einem konservativen Stammland) Johannes Gerster sollte auch aus Gründen des Generationswechsels und der damit verbundenen langfristigen Perspektiven eine Diskussion geführt werden.
Dem kommt Ottfried Hennig in SH in vorbildlicher Weise zuvor, indem er für einen stetigen, aber nachhaltige Veränderungen mit sich bringenden Verjüngungskurs sorgt, der sich schon im neuen Landtag in Kiel durch viele neue und junge Gesichter niederschlägt. Die Regierungsbildung wird hier sicher am interessantesten werden, denn die SPD wird sich für ein Übel entscheiden müßen: Die Grünen oder die FDP im Verbund mit dem SSW. Beides wird für die mit Macht verwöhnte Heide Simonis kein Zuckerschlecken werden.


Entfesselung

Auf Bundesebene muß sich dagegen einiges ändern. Die Regierung muß sich darüber im Klaren sein, daß das Wahlergebnis keine Gutheißung der Abwartepolitik der Vorwahlphase ist, sondern die Erwartung beinhaltet, daß jetzt Taten folgen. Es ist bereits zuviel Zeit vertan worden bei der Masse der anstehenden Probleme. Die Willenserklärung der Koalition, die Positionen nicht mehr bereits im Vorfeld mit Blick auf die Ratifizierung im Bundesrat zu verwässern, sondern klar zu sagen, was man eigentlich will, ist bereits ein guter Anfang. So werden zum einen hoffentlich wieder mehr die Unterschiede zwischen den Parteien deutlich und zum anderen kann dann die Verweigerungshaltung der SPD dem Normalbürger besser verdeutlicht werden.
Das Wahlergebniss ist also für die Regierungsparteien zunächst einmal voll befriedigend, wie Herr Müntefering schon sagte.