Politik

Vergeben und um Vergebung bitten

Das schwierige deutsch-tschechische Verhältnis

Kein Land außer Rußland hat im Zweiten Weltkrieg unter der Nazi-Herrschaft schlimmer gelitten als Polen. Seriöse Schätzungen setzen die Zahl der polnischen Toten auf fast sechs Millionen an, davon rund drei Millionen polnische Juden. Die andere Hälfte waren zu etwa 90% polnische Zivilisten. Die im Krieg gefallenen Soldaten machen nur einen winzigen Teil der Opfer dieses Landes aus.
Doch auch den Deutschen widerfuhr Schreckliches, als über 8 Millionen aus den früheren Ostgebieten des Reiches vertrieben wurden. Viele von ihnen flohen vor der vorrückenden Roten Armee, andere wurden von Russen oder Polen verjagt, gedemütigt, vergewaltigt oder auch ermordet.
Als daher 1965, mitten im Kalten Krieg, die deutschen und polnischen katholischen Bischöfe sich öffentlich gegenseitig erklärten: "Wir vergeben und bitten um Vergebung", war dies nicht nur ein atmosphärischer Durchbruch; das Fundament des heutigen ponisch-deutschen Verhältnisses war gelegt.


Alte Wunden

Als in diesen Tagen der deutsche Dirigent Gerd Albrecht nach einer Kampagne, die nationalistische, aber auch wirtschaftliche Hintergründe hatte, als Chef der Tschechischen Philharmonie, dem wichtigsten Orchester der Tschechischen Republik, zurücktrat, schien das fast folgerichtig.
Denn wenige Tage vorher hatten sich der deutsche und tschechische Außenminister nicht über die Interpretation der Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 einigen können. Vor völlig normalen Beziehungen will die Bundesrepublik wenigstens ein Wort des Bedauerns zu den damaligen Vorfällen hören, während die tschechische Regierung primär die Entschädigung der tschechischen Nazi-Opfer fordert.
Warum also sind die Beziehungen mit der Tschechischen Republik im Vergleich mit Polen so schwierig? Liegt das nur an den Tschechen? Oder gibt es andere Gründe, die in Deutschland manchmal übersehen werden?


Die tschechische Sicht

Im Münchner Abkommen vom 29. September 1938 wurde Hitler mit Einverständnis Frankreichs, Großbritanniens und Italiens das sogenannte "Sudetenland" zugesprochen, jener westliche halbkreisförmige, sich an Deutschland und Österreich (das zu der Zeit von Hitler bereits kassiert worden war) schmiegende Teil der Tschechoslowakei mit gut 3 Millionen deutschen Einwohnern.
Dieses Abkommen, das im nachhinein besonders in Großbritannien als gigantischer politischer und moralischer Fehler betrachtet wurde, stützte sich formal auf das "Selbstbestimmungsrecht der Völker". Diese Formel war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wichtigste Ordnungsmaxime in Europa - und ist es prinzipiell bis heute. Hitler nutzte sie, um sein Expansions- und Kriegsstreben zu fördern.
Dabei spielten die Sudetendeutschen natürlich für die deutsche Propaganda eine wichtige Rolle. Die Sudetendeutsche Partei (SdP), weitgehend ein Ableger der NSDAP, konnte sich in der demokratischen Tschechoslowakei großer Unterstützung erfreuen: Sie erhielt bei den freien Wahlen von 1935 nicht nur 44 der 66 den Deutschen vorbehaltenen Sitze im tschechoslowakischen Parlament, sondern war wegen der großen Zersplitterung der tschchoslowakischen Parteien sogar stärkste Partei des ganzen Landes.
Der "Führer" dieser Partei, Henlein, erhob dann im Laufe des Jahres 1938 im Auftrag Hitlers immer weitergehende Forderungen nach Autonomie, bis er schließlich den Anschluß an das Deutsche Reich forderte. Am 5. November 1938 ging die SdP übrigens in der NSDAP auf.
Der Witz dabei: Hitler war die Selbstbestimmung der Sudetendeutschen völlig schnuppe. Seine Ziele waren vielmehr die Eroberung deutschen "Lebensraums" im Osten und die Vernichtung des Judentums. Henlein und seine Partei waren lediglich ein Werkzeug, um sich bei der Aneignung der Tschechoslowakei so lange wie möglich den Anschein eines lauteren Motivs zu geben. Der wohlhabende Staat mit einer großen Rüstungsindustrie war für Hitlers weitere Ziele von erheblichem Wert.
Es besteht kein Zweifel, daß die große Mehrheit der Sudetendeutschen die Vorzüge der tschechoslowakischen Demokratie, einer der wenigen verbliebenen in Europa, nicht zu schätzen wußte. Man gab sich dazu her, den eigenen Staat von der Landkarte zu tilgen. Denn nach dem Münchener Abkommen war jeglicher militärischer Widerstand der Tschechen und Slowaken gegen Deutschland sinnlos geworden; die wichtigen Grenzbefestigungen fielen an Deutschland.
Am 15. März 1939 kassierte Hitler folgerichtig die restliche Tschechoslowakei. Erst zu diesem Zeitpunkt verstanden die demokratischen Politiker in Paris und London, daß Hitlers Ziele nicht die "Heimholung von Deutschen ins Reich", sondern ein schier grenzenloses Eroberungs- und Unterdrückungsstreben war.


Fünfte Kolonne?

Aus der Sicht vieler Tschechen hatten die Sudetendeutschen selbst die Grundlage ihres Verbleibens in der Tschechoslowakei zerstört. In ihren Augen waren die Sudetendeutschen bestenfalls Verräter, die von sich aus das jahrhundertealte Zusammenleben von Deutschen und Tschechen aufgekündigt hatten, schlimmstenfalls die "fünfte Kolonne" eines größenwahnsinnigen Massenmörders.
Schon 1944, als die deutsche Niederlage im Weltkrieg abzusehen war, entschied die tschechoslowakische Exilregierung Bene`s', die Sudetendeutschen auszusiedeln, und wurde dabei von den Alliierten unterstützt. In der Tat war Bene`s' noch etwa drei Jahre, bis zum kommunistischen Staatsstreich 1948, Präsident der freien Tschechoslowakei. Daß Bene`s', von Haus aus Demokrat und Linksliberaler, seine Unterschrift unter jene Dekrete setzte, die die Vertreibung von 3 Millionen Menschen (wovon etwa 250.000 starben) legalisierte, erschwert bis heute die Vergangenheitsbewältigung.
Die polnische Exilregierung hatte niemals eine Chance, in ihr Land zurückzukehren, und alle Vertreibungsmaßnahmen wurden von Kommunisten und Russen durchgeführt und verantwortet (was natürlich nicht heißt, daß eine andere Regierung unbedingt anders gehandelt hätte). Außerdem wurden von den Russen auch Hunderttausende von Polen vertrieben, die in den Gebieten lebten, die die Sowjetunion sich einverleibt hatte. Im Gegensatz dazu fiel die Vertreibung in in der Tschechoslowakei in die Verantwortung einer demokratisch legitimierten Regierung (wenn die äußeren Zwänge auch überwältigend gewesen sein dürften).


Demokrat und Vertreiber?

Eduard Bene`s', neben Masaryk der Gründervater der Tschechoslowakei, gilt heute in der Tschechischen Republik als letzter demokratischer Staatschef vor der Revolution 1989. V'aclav Havel betrachtet ihn als seinen legitimen Vorgänger, ebenso wie Lech Walesa sich in Polen demonstrativ in die Tradition der unglücklichen polnischen Exilregierung stellte. Da fällt es um so schwerer, Fehler und Verbrechen zuzugeben. Und leider existiert in der Tschechischen Republik keine so mächtige Volkskirche wie in Polen, die zur Not mit einer einfachen christlichen Formel wie der Überschrift dieses Artikels die Hemmungen und Unsicherheiten überwinden kann.


Sich selbst geschadet

Es besteht kein Zweifel, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen ein Verbrechen darstellt, genauso widerwärtig wie die "ethnischen Säuberungen" heute auf dem Balkan. Angesichts der unglaublichen deutschen Greueltaten und der Deportierung von Millionen Zwangsarbeiter nach Deutschland während des Krieges hatten die späteren Sieger aber kaum moralische Hemmungen, mit Hilfe von Umsiedlungen und Vertreibungen die Volkstumsgrenzen den politischen Grenzen zu Lasten der Deutschen anzupassen.
Die Vertreibung von drei Millionen Menschen (bei heute 11 Millionen Tschechen), einem ziemlich großen Anteil der Gesamtbevölkerung, hat natürlich auch ganz praktische Folgen. Es läßt sich gar nicht vermeiden, daß ein ziemlich großer Prozentsatz der Tschechen direkt oder indirekt von der Vertreibung profitiert hat. Allerdings dürften Rückforderungsansprüche der Sudetendeutschen völlig fruchtlos sein. Schließlich war die Maxime "Rückgabe vor Entschädigung" schon in der Ex-DDR kaum durchzusetzen. Und Entschädigung: Damit könnte man die Tschechische Republik in den Ruin treiben.
Auf der anderen Seite hat sich die Tschechoslowakei selbst massiv geschwächt. Drei Millionen Menschen! Dieses Potential ist gewaltig. Ein Staat wie Singapur ist mit drei Millionen Einwohnern unter den 20 größten Exporteuren der Welt. Der Aufstieg des Freistaates Bayern, in dem die meisten der Sudetendeutschen (als "vierter Stamm" neben Bayern, Franken und Schwaben) Zuflucht gefunden haben, dürfte nicht zuletzt auf die Vertriebenen zurückzuführen sein.
Die Vertreibung und ihre Vorgeschichte (zu der übrigens auch eine Vertreibung von etwa 70.000 Tschechen aus dem frisch einverleibten Sudetenland gehört) ist eines der tragischsten Kapitel der europäischen Geschichte. Es hat vermutlich keinen Sinn, öffentlich andauernd auf einer Entschuldigung zu beharren. Moralisch gesehen wäre sie angebracht, denn eine Untat kann man nicht rechtfertigen, auch nicht durch eine andere.
Aus deutscher Sicht scheint mir eine (zumindest moralische) Wiedergutmachung für die Vertreibung als Bedingung für die Entschädigung der tschechischen Nazi-Opfer untragbar. Letzteres ist moralisch und auch politisch geboten, und es bleibt zu hoffen, daß die Bundesregierung ihre komplizierten juristischen Bedenken schnell ausräumt.
Die Tschechen wiederum werden mit Sicherheit, da es sich um eine stabile Demokratie handelt, über kurz oder lang die Vertreibung ihrer ehemaligen deutschen Landsleute sehr viel selbstkritischer als bisher untersuchen. Es ist ohnehin fraglich, ob unter die Tragödie der deutsch-tschechischen Geschichte zwischen 1938 und 1948 überhaupt ein regierungsamtlicher Schlußstrich gezogen werden kann. Vergeben und um Vergebung bitten - das ist weniger die Aufgabe heutiger Regierungen als der Menschen in beiden Staaten. G.D.