Leserbrief

Zum Artikel "Traktionshilfe West - Wie sich Ost-Lokomotiven in der Freiheit bewähren" erreichte uns der erste Leserbrief aus den neuen Ländern:

Eure Politeia ist in Brandenburg gelandet, und als ehemaliger "Vollbluteisenbahner" bei der DR [Deutsche Reichsbahn, frühere Bahn der DDR; d. Red.] stößt mir da Herr U.M. mächtig an die Ehre. Im Heft 157 vom Dezember 1995 wird da über Ost-Lokomotiven in der Freiheit polemisiert. Was mich ganz besonders stört, ist der Absatz "Überlegene Ost-Lokomotiven" mit der Einschränkung "Netz-Infrastruktur erschreckend marode".
Dieses Wort "marode" ärgerte mich schon seit der "Wende", und ich suchte in sämtlichen Fremdwörterbüchern dieses Wort. Der Volksbrockhaus Ausgabe 1939 erklärt es mit "kränklich", das Fremdwörterbuch Ausgabe 1954 erklärt es mit "ermüdet, abgemattet, entkräftet, wegmüde, erschöpft, marschunfähig".
Wenn ich das so sehe, dann muß ich zu der neuen Feststellung kommen, daß DB und die DBAG [Deutsche Bahn AG; d. Red.] marode sind. Die kleine DR hat es geschafft, auf einem Drittel des Netzes der DB die neunfache Menge an Gütern zu transportieren wie die DB. Also etwas vorsichtig mit dem Wörtchen "marode". Vor allen Dingen waren trotz Politik und mancher Engstirnigkeit immer noch Fachleute am Ruder, die etwas mehr wußten als daß Eisenbahn auf Schienen fährt, allerdings vom Geldzählen nicht allzuviel Ahnung hatten, aber das Geld achteten.
Die ach so "marode" Strecke Magdeburg-Berlin war in jahrelanger Arbeit von Grund auf saniert und für 120 km/h zugelassen. Die Wende kam, und alles war wieder hinfällig. Die Strecke wurde total neu gebaut für 160 km/h und elektrifiziert. Zuerst mußte der Hauptbahnhof Magdeburg neu gemacht werden - die Kacheln im Fußgängertunnel paßten nicht zum Farbkonzept des ICE. Der Bahnhof Potsdam Stadt wurde innerhalb von 5 Jahren mitsamt den Bahnsteigen zweimal umgebaut.
Und die Strecke selbst fiel auch beim Bau von einem Extrem in das andere. So existieren von zwei Güterbahnhöfen in meiner Heimatstadt kein einziger mehr, und es wird ein werkseigener Güterbahnhof benutzt, der allerdings ein Sackbahnhof ist. Stellwerke wurden total saniert für zig Millionen DM, nach 18 Monaten existierte keines mehr. Wenn das alles die Eisenbahn oder die DBAG bezahlen müßte - ojeh!
Und unsere Lokomotiven - auf die wir einst so stolz waren, die Lokführer identifizierten sich mit "ihrer" Lok - wie sehen die heute aus! Als die Eisenbahn den Computer für sich entdeckte, verlor sie das logische Denken. Früher war die Eisenbahn eine Familie, und alle zogen an einem Strang.
Heute ist alles genau ungenau laut Computer, in Verantwortungsbereiche ganz klar abgegrenzt, und jeder wurschtelt so vor sich hin - ohne das Ganze noch erkennen zu können. Meine letzte Frage ist nur noch: Wer wird zur Verantwortung gezogen, wenn das mit der DBAG "gegen den Baum geht"?
Ich hoffe, daß da etliche Leute zu meiner Meinung ihre Meinung sagen, und hoffe auf ein paar Meinungsverschiedenheiten.
Horst Wernsdorf
Emster Straße 3-158
14770 Brandenburg


Anmerkungen zum Leserbrief vom Autor des zugrundeliegenden Artikels:

Auch auf die Gefahr hin, Herrn Wernsdorf nochmals "mächtig an die Ehre" zu gehen, können einige Ausführungen zu meinem Beitrag nicht unwidersprochen bleiben. Dabei liegen Verfasser und Leserbriefschreiber eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt.
Zutreffend ist, daß es die ehemalige Deutsche Reichsbahn geschafft hat, auf ihren ungefähr einem Drittel des Netzes der alten Bundesbahn entsprechenden Gleisen ein Mehrfaches dessen an Gütern zu transportieren wie in den alten Bundesländern. Dieser Zustand hatte aber weniger etwas mit dem Zustand der Infrastruktur der Reichsbahn zu tun als mit der Rolle, die dem Schienenverkehr in der DDR zukam. Denn dort gab es kein annähernd so leistungsfähiges Fernstraßennetz wie in der Bundesrepublik, und es war aus energiewirtschaftlichen Gründen vorgegeben, Transporte möglichst über die Schiene abzuwickeln.
Unstrittig dürfte ebenfalls sein, daß Gründe des Umweltschutzes seinerzeit nicht ausschlaggebend für den Vorrang der Schiene waren. Über Jahrzehnte hinweg wurde bei der Reichsbahn das Streckennetz nur äußerst sparsam grundlegend saniert, man begnügte sich in der Regel mit dem obligatorischen Bauunterhalt. Gleiches galt auch für das Signal- und Nachrichtenwesen, von einigen Hauptmagistralen oder vollkommenen Bahnhofsneubauten einmal abgesehen.
So war zur Zeit der Wende die Strecke zwischen Leverkusens Partnerstadt Schwedt und der Stadt Angermünde von Zügen nur noch mit einer Geschwindigkeit von 10 (in Worten: zehn) Kilometern pro Stunde befahrbar. Mehr ließ der Zustand des Oberbaus nicht zu.
Das Beispiel der Strecke Magdeburg-Berlin ist als Gegenbeweis für den angeblich guten Zustand der Reichsbahn denkbar ungeeignet. Denn ähnlich wie für den Bau und den Unterhalt der Transitautobahn nach Berlin flossen für diese Schienenverbindung nach Westberlin die Mittel aus Bonn. Von daher sind die Gleise über Magdeburg Richtung Berlin eben nicht repräsentativ, was den Zustand der Deutschen Reichsbahn anbelangt.
Dem von Herrn Wernsdorf angeführten hohen fachlichen Qualifikationsstand und nicht zuletzt auch einem hohen beruflichen Ethos der Reichsbahner ist es eigentlich zu verdanken, daß der Betrieb unter diesen Gegebenheiten noch verhältnismäßig gut lief.
Beizupflichten ist ihm ebenfalls, daß mit der Gründung der Deutschen Bahn AG das Betriebsklima unter den Eisenbahnern und deren Identifikation mit ihrem Beruf merklich gelitten hat. Das gilt aber auch für die ehemalige Deutsche Bundesbahn.
Der Rückzug der Bahn aus der Fläche vollzieht sich seit Bestehen der Deutschen Bahn AG im Osten geradezu im Zeitraffertempo. Man bemüht sich eben auch hier, das gleiche (schlechte) Niveau wie in den westlichen Bundesländern möglichst bald zu erreichen. Darüber dürfen dann auch nicht die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit und der Ausbau der Hauptstrecken in der Ost-West-Relation hinwegtäuschen.
Ulrich Müller