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ANTIMATERIE

Wird der Erfolg der Wissenschaftler unser Leben verändern?

Zu Jahresbeginn ging eine Meldung durch die Medien: Unter Leitung des deutschen Physikers Walter Oelert war es Wissenschaftlern am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf erstmals gelungen, einige Atome Antiwasserstoff zu produzieren. Was für die Science-fiction-Fans schon lange selbstverständlich war, wurde nun tatsächlich Realität. Gegen die Hoffnung, daß damit nun die Schwelle zum Zeitalter der überlichtschnellen Raumschiffe und der Erkundung ferner Galaxien angebrochen ist, ist aber größte Skepsis angebracht.

Wasserstoff

Ein gewöhnliches Wasserstoffatom besteht aus einem Proton und einem Elektron. Es ist das einzige Atom, was die moderne Physik vollständig ohne Benutzung von Näherungsverfahren beschreiben kann. Die beiden Teilchen ziehen sich aufgrund des unterschiedlichen Vorzeichens ihrer elektrischen Ladung an. Wo sich Proton und Elektron im Bezug aufeinander befinden und mit welcher Geschwindigkeit sie sich bewegen, ist nicht völlig beliebig. Es sind nur gewisse Zustände, die einer bestimmten Energie entsprechen, erlaubt. Um von einem Zustand in einen anderen zu gelangen, muß das Atom den entsprechenden Energieunterschied beispielsweise in Form von Lichtteilchen, sogenannten Photonen, abgeben bzw. aufnehmen.
Ende der 20er Jahre gelang es dem Physiker Paul Dirac, eine Gleichung zu finden, die das Verhalten des Wasserstoffatoms bis auf winzige Korrekturen genau beschreibt. (Die Theorie, die diese erwähnten Korrekturen beschreibt, heißt Quantenelektrodynamik. Sie wurde getrennt voneinander von den Amerikanern Julian Schwinger, Richard P. Feynman und dem Japaner Shinichiro Tomonaga entwickelt. Alle drei zusammen wurden dafür 1965 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.) Allerdings hatte diese Gleichung mehr Lösungen, als im Experiment Zustände zu beobachten waren. Dies veranlaßte die Physiker dazu, so etwas wie "in der Zeit rückwärts laufende Elektronen" vorherzusagen. Der Unterschied zu den normalen Elektronen sollte lediglich darin bestehen, daß die "Antielektronen", später auch Positronen genannt, keine negative, sondern eine positive elektrische Ladung haben.


Antimaterie

Tatsächlich wurden die Positronen nur wenige Jahre später von Anderson in der kosmischen Höhenstrahlung beobachtet. Auch beim radioaktiven Zerfall von bestimmten künstlich hergestellten Atomkernen werden sie frei. Mit der Zeit wurde klar, daß es zu allen elementaren Teilchen auch entsprechende Antiteilchen geben mußte, und sie wurden auch beobachtet.
Teilchen und Antiteilchen sind in fast allen Eigenschaften gleich. In einigen bestimmten Eigenschaften, etwa der elektrischen Ladung, verhalten sie sich genau spiegelbildlich zueinander. Es kann auch vorkommen, daß ein Teilchen sein eigenes Antiteilchen ist, z.B. beim Photon. Dies setzt voraus, daß die "Spiegeleigenschaften" gerade Null sind.
Was passiert, wenn Teilchen und Antiteilchen aufeinandertreffen, ist bekannt: Sie vernichten sich gegenseitig, und es wird nach Einsteins Gleichung E=mc˛ Energie frei. Diese kann in Form von mindestens zwei Photonen oder anderer Teilchen-/Antiteilchenpaare entweichen.


Antiwasserstoff

Antielektron und Antiproton sind schon seit Jahren bekannt und auch beobachtet. Man kann sie in großen Teilchenbeschleunigeranlagen künstlich herstellen. Um sie über längere Zeit speichern zu können bedarf es jedoch eines Vakuums und starker elektrischer und magnetischer Felder. Würden sie einfach mit ihrer Umgebung wechselwirken, würden sie sofort zerstrahlen. Denn gewöhnliche Materie enthält ja Elektronen und Protonen en masse.
Das Neue am CERN-Experiment war nun, die Teilchen gegeneinander so abzubremsen, daß sie nicht einfach aneinander vorbeifliegen, sondern aufgrund ihrer unterschiedlichen elektrischen Ladung aneinander kleben bleiben. So entsteht ein Antiwasserstoffatom aus einem Antiproton und einem Antielektron.


Anwendung?

Was ist nun zur Energiegewinnung aus Antimaterie a'la Raumschiff Enterprise zu sagen? Tatsächlich wird bei der Materie-/Antimaterie-Vernichtung wesentlich mehr Energie in Bezug auf die Masse frei als bei den ohnehin schon sehr effizienten Prozessen von Kernfusion und Kernspaltung. Von daher wären sie für den Antrieb von Raketen, bei denen ja die Masse die entscheidende Rolle spielt, sehr wohl von Interesse.
Es treten jedoch zwei andere Probleme auf. Erstens gibt es in unserer Welt viel zu wenig Antimaterie, sie müßte also erst teuer hergestellt werden. Von Energiegewinnung kann daher nicht die Rede sein, höchstens von (reichlich ineffizienter) Energiespeicherung. Zweitens stellt sich wiederum die Frage nach der Aufbewahrung. Wegen der Zerstrahlungseigenschaft, müßte man auch hier wieder energiefressende und vor allem schwergewichtige Teilchenfallen oder Speicherringe benutzen. Aus der Traum!


Symmetrie

Der Zweck des CERN-Experiments ist auch ein ganz anderer. Es geht darum, die Theorien zu überprüfen. Nach dem gültigen Standardmodell sollen die Eigenschaften von Materie und Antimaterie ja gleich bzw. spiegelbildlich zueinander sein. Da man die Eigenschaften der Materie kennt, sollten daraus die Eigenschaften der Antimaterie vorhersagbar sein. Insbesondere sollten daher die Dirac-Gleichung und ihre quantenelektrodynamischen Korrekturen für das Antiwasserstoffatom gelten. Daher werden sich die Wissenschaftler in Genf zunächst mit der Messung der Energieszustände des Antiwasserstoffs befassen.
Abgesehen von diesen eher profanen Experimenten gibt es aber auch für die professionellen bzw. Hobby-Kosmologen noch eine Menge ungelöster Fragen. Wenn das Universum beim Urknall wirklich aus dem Nichts entstanden ist und das Standardmodell tatsächlich stimmt, so müßte dabei genausoviel Antimaterie wie Materie entstanden sein. Antimaterie in so immensem Ausmaß wurde aber von den Astronomen bisher nicht beobachtet. Wer hält sie vor uns versteckt?
M.W.