75 Jahre Reichskristallnacht


Archivmeldung aus dem Jahr 2013
Veröffentlicht: 08.11.2013 // Quelle: Stadtverwaltung

Zur Erinnerung an die Reichskristallnacht hielt Oberbürgermeister Reinhard Buchhorn soeben am Platz der Synagoge folgende Rede:

"Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
lieber Herr Rabbiner Vernikovsky,
lieber Herr Pfarrer Teller,
lieber Herr Pfarrer Loerken,
lieber Herr Pfarrer Jetter,
liebe Schülerinnen und Schüler,

morgen ist der 9. November 2013, das heißt vor 75 Jahren begann die Nacht, in der organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten - auch das kleine Gotteshaus hier an dieser Stelle. Eine Nacht, die lange verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt wurde, weil in dieser Nacht so viele Glasscheiben zu Bruch gingen. Zu Bruch ging in Wirklichkeit aber viel, viel mehr: Deutschlandweit geht man heute von über 400 Todesopfern nur in dieser Nacht aus. Allein um den 9. November herum wurden über 25.000 Menschen verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Zu Bruch ging außerdem endgültig der gesellschaftliche Zusammenhalt.

Denn es waren ja die Nachbarn, Eltern von Mitschülern, Lehrer, Kaufleute, die damals verfolgt wurden. Diese Menschen hatten vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten genauso wie wir heute auf Recht und Gesetz vertraut, auf Freundschaft, Loyalität und die Anständigkeit ihrer Mitmenschen. Aber, Juden in Deutschland mussten in den 30er Jahren die Erfahrung machen, dass für sie nichts von alledem galt. Ehepartner von Juden ließen sich scheiden, Freunde wandten sich ab, Nachbarn sahen weg – Gesetze, Gerechtigkeit, Berechenbarkeit – es gab keinen Schutz für Juden, kein Fundament, nur Abgründe.

Nur wenige der Nichtjuden trauten sich – und je länger die Verfolgung dauerte, desto weniger – dem etwas entgegenzusetzen. Man hätte sich ja selbst zum Außenseiter gemacht. So wurden damals Menschen, die uns gestern noch etwas bedeuteten, irgendwann nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern als Problem. Von da an, bis zur Vernichtung ihrer Lebensgrundlage durch Boykott der Geschäfte, Kündigung und Auflösung von Beamtenverhältnissen, war es nur ein kleiner Schritt. Ab dem 9. November 1938 mussten jüdische Deutsche dazu um Leib und Leben fürchten.

Die Zerstörungswut, die in dieser Nacht zum Ausdruck kam, war – weil von den Behörden nicht geahndet, ja geduldet, ein verheerendes Signal. Jetzt wurde nicht einmal mehr die körperliche Unversehrtheit und kulturelle Würde respektiert. Diese Nacht war ein Fanal und letztlich das Signal zum größten und schlimmsten Völkermord in der Geschichte der Menschheit.

Der 9. November ist deshalb für uns heute Anlass, an die Reichspogromnacht zu erinnern. Es ist Jahr für Jahr für die Leverkusener Schülerinnen und Schüler Anlass und Gelegenheit, sich mit dem Dritten Reich zu beschäftigen, das mit seinen Verbrechen auch vor dem Leverkusener Stadtgebiet nicht Halt machte, denn auch hier wurden Juden ausgegrenzt, gedemütigt, misshandelt und in den Tod deportiert. Die Zahlen sprechen für sich: Haben 1933 im heutigen Leverkusener Stadtgebiet noch 130 jüdische Gemeindemitglieder gelebt, überlebte bis Kriegsende 1945 nur ein Bürger, indem er sich versteckt hielt.

Am 9. November 1938 begann die systematische Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Ein Deutsches Reich, dessen schreckliche Bilanz nur sieben Jahre später gezogen wurde. Nachweislich haben im Zweiten Weltkrieg mindestens 5,29 Millionen europäische Juden ihr Leben verloren, eher 6,1 Millionen. Dazu kommen die Kriegstoten in ganz Europa, die in zweistelliger Millionenhöhe liegen, zerstörte Familien und Städte. Diese Zerstörungswut begann am 9. November 1938, raste schon ein Jahr später über Europa und steckte schließlich die ganze Welt in Brand - und damit auch Leverkusen und die damalige Kreisstadt Opladen.

Der schwerste Angriff traf Leverkusen am 26. Oktober 1944, als insgesamt 1.017 Sprengbomben und etwa 12.000 Brandbomben fielen. Luftangriffe auf das Reichsbahn-Ausbesserungswerk in Opladen, insbesondere zwischen Dezember 1944 und März 1945, forderten viele Menschenleben und hinterließen ebenfalls große Zerstörungen. Am 15. April 1945 endete der Krieg in Leverkusen und Opladen durch den Einmarsch amerikanischer Truppen, die am 15. Juni durch britische Besatzungstruppen ersetzt wurden.

„Lebendige Geschichte“ heißt das diesjährige Motto dieser Gedenkveranstaltung. Es ist ein sehr treffendes Motto. Nicht nur weil die Schülerinnen und Schüler der Theodor-Heuss-Realschule, der Montanus Realschule und des Landrat-Lucas-Gymnasium sie durch ihr Gedenken lebendig machen, sondern leider auch, weil es immer wieder politische Kräfte gibt, die das Gedankengut der damaligen Zeit sehr lebendig halten.

Rechtspopulisten hetzen heute gegen Muslime, gegen Flüchtlinge, gegen „verbrauchte Altparteien“ und scheuen sich nicht, bei ihren Veranstaltungen Redner auftreten zu lassen, die allen Ernstes Vergleiche ziehen wie diesen: „Wie Aids der physischen Wehrhaftigkeit des Menschen schadet, so untergräbt die Multikultur die demografische Wehrhaftigkeit eines ganzen Volkes und einer Zivilisation.“

Diese Analogie erinnert stark an die Ideen von der „Erbgesundheit“ vergangener Zeit. Dieses Zitat stammt übrigens aus dem Verfassungsschutz-Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen“, der diese Parteien beobachtet.

Zwar haben diese Bewegungen weniger Zulauf als wahrscheinlich selbst erwartet, aber sie wirken unterschwellig: Sie machen „Fremdenfeindlichkeit“ wieder gesellschaftsfähig. Es ist nicht mehr tabu, feindselig über Menschen zu reden, die nicht in das eigene Weltbild passen.

Nun ist die heutige Bundesrepublik Deutschland nicht zu vergleichen mit der Weimarer Republik. Das demokratische, rechtsstaatliche System hat sich seit Jahrzehnten etabliert und bewiesen. Die meisten von uns gehen heute wesentlich reflektierter mit eventuell vorhandenen Ressentiments um, als unsere Eltern und Großeltern vor 75 Jahren. Das ist auch ein Verdienst von Veranstaltungen wie dieser. Nur wer weiß und sich vor Augen hält wohin jede politische Bewegung führen kann, die eher auf irrationale Ängste und Gefolgschaft setzt, als auf den mühsamen Willensbildungsprozess der Demokratie und ihre Freiheitsrechte, kann billiger Propaganda widerstehen.

Thomas Mann mahnte schon 1933, im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
„Wenn hier die philosophisch modischen Begriffe des Blutes, […] eingesetzt werden gegen die angeblich so abgetanen und abgestorbenen Gedanken der Freiheit und Demokratie, so stellt sich jene verabscheuungswürdige Mischung […] her, die wir heute so vielfach am Werke sehen […]. Aber die Deutsche Republik muß den Glauben an ihre Kraft und ihr Recht lernen, sie soll wissen, wie stark sie im Grunde ist und welch unerschütterliche moralische und geistige Kräfte ihr auch heute zur Seite stehen, wo scheinbar das ihr Feindliche triumphiert. Das ist eine Episode. Das soziale und demokratische Deutschland, ich bin tief überzeugt davon, darf vertrauen, daß die gegenwärtige Konstellation vorübergehend ist und daß die Zukunft, trotz allem, ihm gehört.“ Zitatende!

Thomas Mann sollte Recht behalten. Wir leben heute in diesem Deutschland. Wir können gar nicht genug schätzen, dass das so ist.

Denn dazwischen lagen Jahre, die nicht nur Millionen von Menschen das Leben gekostet haben, sondern in denen eine ganze Gruppe von Menschen auf eine Weise gedemütigt , gefoltert, verfolgt und getötet wurde, die nichts weiter getan hat, als das Alte Testament zur Grundlage ihres Glaubens zu machen.

Wenn wir heute also der Reichpogromnacht gedenken, leisten wir auch immer wieder Abbitte bei den Menschen jüdischen Glaubens. Wir müssen uns auch noch 75 Jahre nach dem Novemberprogrom zu dieser Schuld bekennen. Denn was damals begann, diese systematische und gnadenlose Verfolgung und Vernichtung, der Verrat an unseren Nachbarn, Kollegen und Freunden, und damit allen Werten, die auch damals schon unser Zusammenleben bestimmten - so etwas darf sich nie wiederholen."


Anschriften aus dem Artikel: Alte Landstr 129, Albert-Einstein-Str 58

Kategorie: Politik
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