Stadtplan Leverkusen


Rubber's coming home

Eröffnung der neuen Therban®-Anlage in Leverkusen
Bayer hat den Synthesekautschuk erfunden – und erweitert heute immer noch die Leistungsgrenzen dieses Werkstoffs: Gummi ist High-tech


Wer die Geschichte des Werkstoffs Gummi erzählen will, könnte über etliche Seiten Zahlen und Daten auflisten. Zum Beispiel: Fernando Cortez beobachtet Azteken, die mit einer Art Gummiball spielen – 1519. Entdeckung der Vulkanisation durch Charles Goodyear: 1839. Entdeckung des ersten brauchbaren künstlichen Kautschuks durch den Bayer-Chemiker Fritz Hofmann: 1909, etc. etc. Man kann sich diesem faszinierenden Material aber auch ganz anders nähern: Indem man seine Geschichte als eine Chronik der Herausforderungen sieht, die mit Kautschuk und Gummi gelöst wurden – und der Herausforderungen, denen sich Chemiker und Ingenieure bei der Entwicklung neuer Gummitypen stellen mussten. Die "Story" des Therbans ist ein guter Anlass hierzu. Denn auch, wenn die Entwicklung von leistungsfähigen Gummirezepturen vielen Nichteingeweihten immer noch als eine Art "Schwarze Kunst" erscheint: Mit Alchemie hat sie heute nichts mehr zu tun. Gummi ist High-tech: Gummi dämpft und dichtet heute praktisch in jedem Bereich der Industrie, ob deutlich sichtbar zum Beispiel in Autoreifen oder eher versteckt in Dichtungsringen, Hydraulikschläuchen oder Stoßdämpfern.

Die Ringe des Herrn Simmer

Dabei ist Gummi nie gleich Gummi: Manche technische Anwendung ließe sich zum Beispiel mit "Standard"-Elastomeren aus Naturkautschuk unmöglich realisieren. Nur ein Beispiel: Der Simmerring. Die Idee zu diesem heute allgegenwärtigen Wellendichtring hatte vor gut siebzig Jahren der österreichische Ingenieur Walther Simmer. Allerdings wäre sein guter Gedanke fast an seiner praktischen Umsetzung gescheitert. Simmer fertigte seine Ringe nämlich zunächst aus Lederriemen, musste aber beobachten, dass diese rasch undicht wurden und sich nicht mit ausreichender Spannung an drehende Wellen anpressen ließen. Heute würde man sagen: Klar, warum hat er nicht gleich Gummi genommen... Dieser Standpunkt zeigt aber nur, wie sehr wir heutzutage mit leistungsfähigen Gummisorten verwöhnt sind.

Natürlich kannte Simmer Gummi. Sein Problem: Der Gummi-Rohstoff Kautschuk – sowohl der natürliche, der aus dem Saft (Latex) des Kautschukbaums (Hevea brasiliensis) gewonnen wird, als auch die diversen synthetischen Varianten, die Chemiker zu Anfang des letzten Jahrhunderts in ihren Kolben zusammenbrauten – besteht aus langen Kettenmolekülen, die in ihrer chemischen Natur den Bestandteilen des Öls sehr ähneln. Resultat: Gewöhnliches Gummi saugt Öl auf wie ein Schwamm und kann dabei auf mehr als das doppelte seines ursprünglichen Volumens aufquellen. Das macht den Werkstoff der Azteken nicht gerade zum Traum für Ingenieure, die bewegliche Teile mit öligen Schmierstoffen aller Art bei Laune halten müssen.

Gummi unter der Lupe

Natürlich hat Simmer sich mit seiner Idee durchgesetzt – aber erst, als es gelang, einen Kautschuk zu entwickeln, der beständig genug war, um den damals verwendeten Getriebeölen zu trotzen – ein Werkstoff, der gerade unter dem Namen Perbunan® auf dem Markt erschienen war. Die für Simmer erlösende Nachricht kam übrigens schon damals aus Leverkusener Laboratorien: Den Kautschuk, der in Öl nicht mehr aufquoll, hatten Bayer-Chemiker entwickelt. Um zu verstehen, wie ihnen dieses Kunststück gelungen ist, muss man einen ganz kurzen Ausflug in die Chemie des Gummis wagen. Das Bauprinzip der allermeisten Gummiwerkstoffe ist sehr einfach: Sie bestehen aus den bereits angesprochenen langen Kettenmolekülen, die beim Vulkanisieren mit speziellen Chemikalien wie Schwefel oder Peroxiden untereinander verknüpft werden, so dass aus einem Haufen lose anein-andergleitender "Spaghetti" ein Festkörper wird, der aber durch das flexible Netzwerk dennoch elastisch bleibt. Dieser Grundrezeptur mischt man in der Praxis zur Erzielung bestimmter Eigenschaften noch bis zu 25 Zusatzstoffe bei. Den bei weitem höchsten Anteil daran haben Füller wie Ruße, die dem Gummi unter anderem ihre Härte verleihen und zum Beispiel Autoreifen schwarz färben.

Wesentlich für die Kautschuk-Chemiker sind jedoch die Bausteine, die sie in ihren Kolben zu den besagten Kettenmolekülen aufreihen: Wer die variiert, kann damit die Eigenschaften der ganzen Kette drastisch ändern. Der Trick der Leverkusener Perbunan-Entwickler: Sie knüpften an die Kautschuk-Kettenglieder jeweils die Bausteine einer Verbindung, die sich mit Öl nicht mischt. Die Ketten, die sie daraus aufbauen, stoßen Öl praktisch von innen ab – ähnlich wie Wasser oder die Beschichtung einer Bratpfanne. Das ist alles. Die besagten ölabstoßenden Molekülschnipsel nennen Chemiker übrigens "Nitrilgruppe", daher trägt der ölfeste Kautschuk die allgemeine Bezeichnung NBR (Nitril-Butadien-Rubber) und bei Bayer eben den schöneren Namen Perbunan.

Nun ist Perbunan NT bei weitem nicht der einzige synthetische Kautschuk, nicht der leistungsfähigste und auch nicht der letzte. Inzwischen kennt man eine ganze Palette künstlicher Kautschukvarianten – angefangen vom Polybutadien über den so genannten "Styrol-Butadien-Kautschuk" (SBR), ohne den heute kein Autoreifen denkbar wäre, bis hin zu Spezialitäten wie den witterungsbeständigen Chloroprenkautschuk (CR), der zum Beispiel von Bayer unter dem Namen Baypren angeboten wird; Surfer und Taucher dürften CR durch ihre Anzüge gut kennen. Hinzu kommen inzwischen rund zwanzig Hochleistungskautschuke und verwandte Werkstoffe: zum Beispiel besonders kälteflexible Silikonelastomere und Polyurethane, die Gummi in Punkto Gewicht und Abrieb mühelos überrunden, oder teure fluorhaltige Kautschukvarianten, die nur in sehr wenigen High-Performance-Anwendungen zum Einsatz kommen. Für alles eine Lösung, könnte man meinen. Und dennoch gibt es immer noch Aufgabenbereiche, in denen selbst Vorzeigewerkstoffe wie Perbunan und seine Vettern an ihre Grenzen stoßen.

Die Therban-Story

In der Tat hat nämlich auch Nitrilkautschuk noch eine Achillesferse: Seine Heißluftbeständigkeit. Der Grund hierfür liegt in der Bildungsreaktion aller Kautschuke: Die Perbunan-Kettenmoleküle sind wie die der allermeisten anderen Elastomere gewissermaßen übersät mit Angriffspunkten für den Luftbestandteil Sauerstoff – so genannten Doppelbindungen, die bei der Herstellung der Molekülfäden aus kleineren Bausteinen zwangsläufig entstehen. Setzt man gewöhnlichen Kautschuk heißer Luft aus, dringen Sauerstoffmoleküle in den Gummi ein und spalten diese Doppelbindungen – ähnlich wie bei Butter, die man zu lange an der Sonne stehen lässt. Hier wie dort hinterlässt der Sauerstoff kürzere Molekülbruchstücke, die im Falle der Butter unangenehm riechen, im Falle des Kautschuks die physikalischen Eigenschaften des Werkstoffs nachhaltig trüben: Bei zu großer Hitze oder starker mechanischer Belastung entstehen Risse, das Material verliert an Elastizität – ein Alptraum zum Beispiel für Motorkonstrukteure, die in ihren neuesten Produkten durch zunehmende Abkapselung (aus Lärmgründen) und gesteigerte Leistungsfähigkeit der Triebwerke unter der Motorhaube inzwischen Temperaturen von bis zu 150 Grad Celsius und darüber verzeichnen müssen. Außerdem werden die Schmiermittelzusätze, die die Motoren auf Höchstleistung trimmen, immer aggressiver – auch sie "knabbern" an den Doppelbindungen. "Normale" Hochleistungsgummis halten dieses Klima nicht lange durch.

Zwar gibt es chemische Methoden, dem Sturmangriff des Sauerstoffs Paroli zu bieten, zum Beispiel mit Molekülen, die den Angriff des aggressiven Gases auf sich ziehen, so genannte Antioxidantien. Aber wirkliche Abhilfe schafft nur eine radikale Lösung: Alle Doppelbindungen müssen raus aus den Kautschuk-Kettenmolekülen.

Doppelbindungen raus!

Dass das geht, weiß man bei Bayer seit Mitte der siebziger Jahre: Damals begannen engagierte Chemiker in den Kautschuklaboratorien des Konzerns nach Methoden zu fahnden, mit denen man die Doppelbindungen zum Beispiel aus den Perbunan-Gummimolekülen ausradieren konnte – ohne die empfindlichen Nitrilgruppen im Kautschuk gleich mit zu zerstören. Kandidaten für den Job waren schnell gefunden: Katalysatoren aus den Metallen Rhodium, Palladium und Ruthenium, denen die Wissenschaftler mit chemischen Tricks die Fähigkeit anerzogen haben, spezielle Reaktionen einzuleiten. In diesem Fall bringen sie das in einem Lösemittel verteilte Perbunan dazu, mit dem Gas Wasserstoff zu reagieren. Der Wasserstoff besetzt dabei praktisch die Stellen im Kautschuk-Molekül, die der Sauerstoff für sein Werk braucht: Kein Angriffsziel – kein Angriff.

Die ersten Jahre der Forschung am HNBR getauften Material (Hydrierter NBR-Kautschuk) verliefen recht turbulent. Vor allem der hohe Preis der favorisierten Übergangsmetallkatalysatoren brachte das Projekt mehrmals ins Stocken und vorübergehend einmal sogar ganz zu Fall: Rhodium zum Beispiel ist knapp vier Mal teurer als Gold, da zählt jedes Gramm, das man in die honigzähe Kautschuk-Lösung werfen muss, damit es mit dem Wasserstoff fluppt. Bis 1980 immerhin war man so weit, dass 0,15% des Katalysators in der Mischung reichten, ab Mitte der Achtziger Jahre begann man dann, in ppm zu rechnen; parallel dazu liefen Bemühungen, die teuren Metalle wieder aus den Reaktionslösungen zurückzugewinnen – ein Kniff, der sich bis heute bewährt, aber dazu später mehr. 1979 lagen die Weltvorräte des neuen, geheimnisvollen Superkautschuks immerhin schon bei wenigen Dutzend Kilogramm, die in Testlaboratorien zu Gummi verarbeitet, gestaucht, gebogen, in Öl getaucht und in heißer Luft gebadet wurden. Anfang der Achtziger wuchsen die produzierten Mengen stetig an: 1981 kratzten die Chemiker erstmals 200 Kilogramm aus dem Reaktor, 1983 waren es schon beachtliche neun Tonnen – hierfür musste allerdings das Technikum umgebaut werden.

Getauft wurde der neue Vorzeigewerkstoff – wie es sich gehört – noch an seiner Wiege: Im Jahre 1981 einigte man sich auf den Namen Therban®. Ob dazu eine Flasche Champagner an einem Reaktor zerschellen musste ist nicht überliefert; auch die Gründe für die Namensauswahl liegen heute im Dunkeln, aber auf den Gängen des Kautschuklaboratoriums ist immerhin zu erfahren, dass der Name wahrscheinlich mit den Worten "Thermisch stabiles Perbunan" zu tun hat. Denn das neue Geschöpf aus den Dormagener Kautschuk-Tiegeln war tatsächlich – wie erwartet – äußerst wärmebeständig: Es übersteht Arbeitstemperaturen von bis zu 150 Grad Celsius ohne weiteres – rund 20 bis 30 Grad mehr als die allermeisten anderen Gummiwerkstoffe –, kann aber noch mehr. Vom Perbunan hat es seine Öl- und Treibstoffbeständigkeit geerbt, wie beim Perbunan kann man zum Beispiel die Tieftemperaturflexibilität über den Nitrilgehalt einstellen. Therban erwies sich zudem als nahezu undurchlässig für Gase und toleriert UV- und sogar radioaktive Strahlung, ohne zu zerfallen. Vor allem aber ist Therban immer noch ein waschechter Gummi-Rohstoff: Aus diesem Kautschuk lassen sich elastische Formkörper mit hervorragenden Dämpfungseigenschaften und einem niedrigen Verformungsrest vulkanisieren, die technischen Formartikeln aus anderen Gummiarten in nichts nachstehen.

Flexibler Tausendsassa unter den Gummi-Werkstoffen

Nach und nach lernten die Bayer-Forscher, mit dem Werkstoff zu "spielen": Durch ausgeklügelte Verfahrenstechnik gelang es ihnen, nicht gleich alle Doppelbindungen zu eliminieren, sondern gezielt Rest-Doppelbindungsgehalte von 0,3 bis 7 Prozent zu bewahren – einen gewissen Doppelbindungsanteil braucht man schließlich, um das Material zu vulkanisieren und zum Beispiel fest an technische Gewebe oder Oberflächen zu binden. Ganz ohne reaktive Stellen geht es eben auch nicht – hier die Balance zu finden, ist die Kunst der Anwendungstechniker. Ihnen bieten die verschiedenen Therban-Varianten aber genügend Spielraum.

Unverwüstlich, auch unter Druck, in Öl schwimmend und unter hohen Temperaturen: Kein Wunder, dass die ersten Interessenten an dem neuen Wunderelastomer aus der Ölindustrie kamen, die mit Therban-Gummi ihre Bohrtürme ausrüsteten. Erst später kam die Autoindustrie hinzu, die aus diesem Werkstoff zum Beispiel hydraulische Schläuche für Servolenkungen, Zylinderkopfdeckeldichtungen, Spurstangenlager, Zahnriemen, Wasserpumpendichtungen – und Simmerringe! – herstellte. Therban erwies sich auch als beständig gegen Detergentien und eine ganze Reihe anderer Chemikalien und bekam sogar die Lebensmittelrechtliche Freigabe der FDA. Der ist es zu verdanken, dass Therban heute auch Spülmaschinen (heiße Lauge!) und Espressomaschinen (heißer Dampf) ein ganzes Produktleben lang dichthält. Auch die Papierindustrie setzt inzwischen auf Therban: In schnell drehenden Walzen, bei denen es auf besonders gute Abriebwerte sowie Beständigkeit gegen Papierchemikalien und Druckfarben ankommt. Heute gehen 51 Prozent dieses High-end-Kautschuks in die Produktion von Steuerriemen, 16 Prozent in Dichtungen, 15 in Schläuche, vier in die Ölförderung, und nochmals vier finden sich in Kabeln wieder; der Rest verteilt sich in allerlei Produktnischen.

Der Erfolg spricht für sich: Bereits 1984, gerade einmal zehn Jahre nach den ersten zaghaften Versuchen im Reagenzglas, reifte bei Bayer die Idee, eine große Pilotanlage zur Therbanproduktion aufzubauen. 1987 schwebte den Planern bereits eine 1000-jato-Anlage vor. Daraus wurde jedoch nichts. Denn mittlerweile hatten auch andere Anbieter die Wasserstoff-Idee verfolgt – unter anderem die Firma Polysar, die im selben Jahr (1987) bereits den Grundstein zu einer HNBR-Anlage in Orange (Texas) legte. Die Fabrik nahm schon im Dezember 1988 ihre Arbeit auf, war allerdings zunächst nur halb ausgelastet – das neue Polymer musste sich erst seinen Markt erschließen. Da griffen die kühlen Rechner vom Rhein zu: Von 1989 an nutzte auch Bayer die Anlage in Orange. Sie scheint den Leverkusener Chemikern so gut gefallen zu haben, dass Bayer die Polysar Rubber Division bereits ein Jahr später komplett übernahm und die Kapazität flugs auf rund 3000 Tonnen pro Jahr ausbaute. Damit war der Traum einer Therban-Anlage in Leverkusen zunächst ausgeträumt.

Die neue Anlage

Allerdings nicht für immer. Ende der Neunziger Jahre gab es für die Leverkusener Chemiker, die den Gedanken an einen "eigenen" Therban-Reaktor vor der Haustür immer noch hegten, ein rosiges Erwachen. Denn der Markt hatte sich von 1992 bis 1996 überaus proper entwickelt. Die Marketing-Experten der Leverkusener Synthesekautschuk-Pioniere verzeichneten in diesen vier Jahren eine satte Verdopplung der Nachfrage, der Weltbedarf wurde auf gute 6000 Tonnen geschätzt – Tendenz: überdurchschnittlich steigend. Das überzeugte auch die Entscheider in der Konzernleitung, die schließlich gerne bereit waren, noch einmal 120 Millionen DM für eine entsprechende Anlage in Europa auf den Tisch zu legen. Grundsteinlegung des neuen Betriebs war am 15. September 1998 im Chemiepark Leverkusen – damit konnte die Leverkusener Vorstandsetage auch gleich ein Versprechen einlösen, das sie den Arbeitnehmervertretern zuvor gegeben hatte: Die neue Therban-Anlage sichert Arbeitsplätze – 40 an der Zahl – und ist ein deutliches Bekenntnis zum Standort Leverkusen.

Bevor sich die veranschlagten rund 3000 Tonnen frischer Jahreskapazität jedoch in den Bayer-Büchern positiv bemerkbar machen können, mussten Ingenieure, Techniker und Logistiker eine wahre Meisterleistung erbringen. In Spitzenzeiten arbeiteten bis zu 200 Arbeiter auf dem ausersehenen Gelände; sie legten 22 Kilometer Rohrleitungen, die sie an über 2000 Stellen zu einem glänzenden Techno-Netzwerk verknüpften – insgesamt galt es, weit über 140.000 Einzelteile zu einem modernen, aber überaus fragilen Technik-Koloss zusammenzufügen, nach Plänen, über die selbst versierte Techniker nur mit Computerhilfe und vor allem viel Erfahrung den Überblick behalten können.

Der Einbau des zentralen Reaktors, in dem der "gewöhnliche" Nitrilkautschuk erst zum Therban veredelt wird, glich in diesem Gewimmel in der Tat einer Herztransplantation – und war genauso spannend. Der Reaktor selbst, etwa vier Meter breit und rund fünf Meter hoch, bringt knapp 140 Tonnen auf die Waage – allein das Rührwerk wiegt sechs Tonnen – und erleichterte die Kasse der Bayer-Kautschuk-Experten um runde fünf Millionen Mark. Er ist damit der größte Einzelposten in der Baubilanz. Dabei ist der Koloss nicht einmal der größte im Leverkusener Chemiepark. Aber der einzige, der Drücke bis zu 145 bar aushalten kann: Das entspricht dem Druck, der eineinhalb Kilometer unter dem Meeresspiegel herrscht.

Herzoperation

Damit dieser überdimensionale Dampfkochtopf bei der Arbeit keine "dicken Backen" bekommt, wurden ihm knapp 20 Zentimeter dicke Stahlwände mit auf den Weg gegeben. Schon die Herstellung des Stahlzylinders war daher eine Meisterleistung, vielleicht vergleichbar mit dem Schmieden eines 200fach gefalteten Samuraischwerts: Der zylindrische Teil des Reaktors musste aus einem Stahlblock gefertigt werden. Japanische, finnische und amerikanische Reaktorspezialisten hatten schon abgewunken, da erst fanden die Bayer-Ingenieure im Saarland und in Frankreich zwei Unternehmen, die den Reaktor bauen konnten. Als es um die Herstellung des abgerundeten Bodens des Ungetüms ging, hob sogar nur noch ein Hersteller die Hand.

Um das schwere Prachtstück vom Tieflader an seinen Platz im Gebäude zu heben, musste eigens ein 1000-Tonnen-Kran hinzugezogen werden – einer von höchstens einer Hand voll in ganz Europa, die diesen Job erledigen können, und selbst ein Ungetüm, das in 20 Sattelschleppern in Leverkusen angeliefert werden musste. Für die Muskelspiele des kräftigen Krans war auf dem Leverkusener Gelände obendrein nicht eben viel Platz: Das etliche hundert Tonnen schwere Kontergewicht des Krans musste während der Aktion in einer Nebenstraße abgestellt werden. Trotz der generalstabsmäßigen Planung wurde die Hängepartie daher noch einmal richtig spannend, als ausgerechnet am großen Tag, dem 3. März 2000, orkanartige Böen aufkamen: Zwar hing die Aktion nicht am seidenen Faden, sondern an armdicken Stahltrossen, dennoch hatten die Kranführer in ihrer Kabine einiges zu schwitzen – drei Zentimeter Spielraum in der Dachöffnung sind nicht eben viel. Der neue Therban-Betrieb ist übrigens darauf ausgelegt, bei Bedarf einen zweiten, ebenso leistungsfähigen Reaktor aufzunehmen – man kann sich sicher leicht ausmalen, was sich die Experten für Logistik in luftiger Höhe dann wünschen.

Nun steht in Leverkusen eine absolut moderne Anlage – die nicht nur Chemiker beeindruckt, sondern auch den Bundesumweltminister: Er hat das ganze Projekt mit immerhin 1,35 Millionen Mark gefördert. Die Umweltbilanz des Betriebs kann sich nämlich auch sehen lassen: Die Anlage pustet jährlich 5000 Kubikmeter weniger lösungsmittelhaltige Abgase und 300.000 Kubikmeter weniger Stickstoffemissionen in den blauen Leverkusener Himmel als weniger fortschrittliche Anlagen und spart zudem Jahr für Jahr rund 20.000 Tonnen Dampf und etliche Tonnen Lösemittel ein. Letztere werden nämlich recycelt und in den Produktionsprozess zurückgeführt. Zudem kommt auch der Hydrierungsprozess ("Chemie-Chinesisch" für "Reaktion mit Wasserstoff") im zentralen Reaktor durch clevere Chemie und ausgeklügelte Verfahrenstechnik – auch der Katalysator wird recycelt! – mit deutlich weniger Rhodium aus: Ein Chemiker hat ausgerechnet, dass dadurch von nun an jedes Jahr sage und schreibe 300.000 Tonnen weniger Rhodium-Erz abgebaut werden müssen.

Neue Therban-Typen für besonders knifflige Fälle

Damit ist der Siegeszug des Therbans vorläufig auf seinem Höhepunkt angekommen. Vorläufig deshalb, weil die Anforderungen an einen Hochleistungskautschuk weiter steigen werden – die Technik macht halt nicht Halt. Beispiel Automobilbau: Der bereits angesprochene Temperaturanstieg unter der Haube steht bei 150 Grad Celsius noch nicht am Ende seiner Skala. Inzwischen verzeichnen die Ingenieure am Motorkern schon Spitzentemperaturen um 170 Grad, während sich die permanenten Temperaturen unter der Haube stetig der 150 Grad-Marke nähern. Aber auch hier hat man in den Dormagener Kautschuk-Laboratorien eine Lösung gefunden: Durch spezielle Antioxidantien und eine intelligente Chemie, die die Stabilität des HNBR-Kautschuks bei hohen Temperaturen verbessert, haben die Bayer-Experten die thermische Einsatzobergrenze des Therbans noch einmal um 15 Grad hinausgeschoben – auf 165 Grad. Das neue, coole Produkt heißt Therban HT und ist erst seit kurzem auf dem Markt.

Auch nach unten lässt sich das Arbeitstemperatur-Intervall des Therbans ausdehnen – indem man in das Kettenmolekül ab und an sperrige Molekülteile einbaut, die verhindern, dass das Polymer zu früh kristallisiert – vulgo: erstarrt. Voilá: Therban LT. Bei einem dritten, ebenfalls brandneuen Spezial-Therban – Therban FT – handelt es sich um eine "Legierung" aus dem Standard-Therban und einem Fluorpolymer, das die Treibstoff- und Ölbeständigkeit des Werkstoffs noch einmal auf die Spitze treibt, während alle anderen guten Eigenschaften des Therbans erhalten bleiben. Therban FT lässt sich zum Beispiel von modernen, aggressiven Benzinen und sauerstoffhaltigen Treibstoffen wie Methanol und Ethanol (womöglich aus landwirtschaftlicher Produktion) nicht mehr in Mitleidenschaft ziehen.

"Football's coming home" hieß es anlässlich der vergangenen Fußballeuropameisterschaft in England. Ähnliches könnten die Bayer-Kautschuk-Experten in diesen Tagen auch sagen: Der Synthesekautschuk wurde schließlich in Leverkusen erfunden – und Bayer-Forscher haben der Gummi-Entwicklung durch die Jahrzehnte eine ganze Reihe wichtiger Impulse verliehen. Im Jahre 1999 stammten 61,4 Prozent der weltweit produzierten 17365 Kilotonnen Kautschuk aus Industriereaktoren, waren mithin synthetisch (rund eine Million Tonnen davon kamen von der Bayer AG, die damit nach wie vor der größte Synthesekautschuk-Produzent ist), und nur noch bei 38,6 Prozent handelte es sich um Naturkautschuk. Dagegen nehmen sich die knapp 10.000 Tonnen HNBR, die Bayer von nun an produzieren kann, klein aus. Aber Therban macht sicher die Spitze der technischen Entwicklung aus. Und die steht nun wieder in Leverkusen.

Foto Bayer AG
Rund 60 Prozent des Therban®-Umsatzes gehen heute in die Automobilindustrie. Kein Wunder: Die Bedingungen unter der Motorhaube werden immer rauer – die Betriebstemperaturen im Umfeld moderner Hochleistungsmotoren steuern inzwischen auf die 150 Grad Celsius zu, Öle und Schmierstoffe mit aggressiven Zusätzen machen gewöhnlichen Gummiwerkstoffen ihr Produktleben einen halben Meter vor dem Gaspedal ausgesprochen schwer. Elastomere aus Therban, dem HNBR-Kautschuk von Bayer – der seit Oktober 2000 auch am Standort Leverkusen produziert wird – sind dagegen für den Einsatz in dieser Gummihölle bestens gerüstet. Sie finden dort zum Beispiel in Antriebs- und Zahnriemen Einsatz, so auch im neuen TDI-Motor von Audi. Noch vor wenigen Jahren übernahmen laute Ketten oder Zahnriemen aus Chloroprenkautschuk diesen harten Job, jedoch selbst bei einer – aus heutiger Sicht moderaten – Dauereinsatztemperatur von 100 Grad gerade mal etwa 80.000 Kilometer lang, dann war der Austausch fällig. Wer ihn versäumte, musste im schlimmsten Falle Motorschäden und Reparaturkosten bis zu mehreren Tausend DM Höhe in Kauf nehmen, schließlich steuert der Zahnriemen die komplette Ventilsteuerung des Automobiltriebwerks. Die extrem hitzebeständigen Therban-Zahnriemen erbringen dagegen selbst bei extrem hohen Umgebungstemperaturen noch Laufleistungen von knapp 200.000 Kilometern und mehr. Damit verringern sie den Wartungsaufwand deutlich, tragen erheblich zum Lärmschutz bei und helfen durch ihren absolut präzisen Lauf sogar Sprit zu sparen. Weiterentwickelte Therban-Typen wie Therban HT überstehen sogar Arbeitstemperaturen von bis zu 165 Grad Celsius.

Foto Bayer AG
Im vorletzten Jahrhundert waren Regenmäntel und Fahrradreifen die technischen High-end-Anwendungen, die durch Gummi revolutioniert wurden. Heute ist es eine stark weiterentwickelte Mischung aus beidem: Das Automobil. Hohe Temperaturen unter der Motorhaube und aggressive Chemikalien in den verschiedenen Kreisläufen des Fahrzeugs – vom Kühlsystem bis zur Klimaanlage – verdrängen immer mehr Gummi-Typen, die noch vor wenigen Jahren zu den Vorzeigeprodukten der Kautschukindustrie gehörten. Ersetzt werden sie immer öfter durch extrem hochgezüchtete Hochleistungselastomere aus Spezialkautschuken wie dem hydrierten Nitrilkautschuk Therban®, den Bayer ab Oktober 2000 in einer soeben eingeweihten neuen Anlage im Leverkusener Chemiepark produziert. Therban-Elastomere widerstehen nicht nur extrem hohen Arbeitstemperaturen von bis zu 165 Grad Celsius: Sie sind auch beständig gegen eine Vielzahl von Chemikalien wie legierten Hydraulikölen oder den Flüssigkeiten, die in Klimaanlagen für den Wärmetransport sorgen. Schläuche aus Therban tolerieren rasche Druckänderungen und sind eine wirksame Barriere für die Diffusion von Wasser oder Gasen – damit wurden sie zum idealen Kandidaten für die Hydraulikschläuche in BMW-Servolenkungen. Dort bürgen sie auch unter rauen Bedingungen für das zusätzliche Quäntchen Sicherheit, das hochwertige Automobile heute auszeichnet.

Foto Bayer AG
Öle und Treibstoffe sind keine Medien, mit denen sich "Gummi" von Haus aus verträgt: Die meisten Kautschuk-Elastomere quellen bei Kontakt mit diesen Flüssigkeiten auf – bis auf das Doppelte ihres ursprünglichen Volumens. Dennoch kann man auch dort, wo man mit derartigen Medien zu tun hat – etwa bei der Dichtung von Kraftstofftanks – nicht mehr auf effiziente elastomere Dichtsysteme verzichten. So zum Beispiel auch bei einer Tank-dichtung für Dieselfahrzeuge der Volkswagen AG: Hier sorgen Dichtungen aus dem Bayer-HNBR-Kautschuk Therban® für eine effiziente Versiegelung des Tankinnern. Wesentlich ist bei dieser Anwendung, dass Gummiwerkstoffe aus dem High-end-Elastomer, das die Bayer AG seit Oktober 2000 auch in einer neu errichteten Produktionsanlage auf ihrem Leverkusener Werksgelände produziert, in Kontakt mit Dieseltreibstoff eine hervorragende Dimensionsstabilität bewahren und ihre elastischen Eigenschaften unverändert beibehalten. Therban wird auch an anderer Stelle im Dieselmotor eingesetzt – zum Beispiel in Düsenhalterkombinationen oder Nutringdichtungen von automatischen Nutzfahrzeugen. Hier kann der Werkstoff auch seine hervorragende Hitzebeständigkeit, seine ozon- und sauerstoffresistenz und seine Stabilität gegenüber basischen Ölzusätzen in die Waagschale werfen.

Foto Bayer AG
Unrasierte Männer, schwere Maschinen, Dreck ohne Ende, Abgase, Druck und Öl – in dieser Atmosphäre hat sich Therban®, das Hochleistungs-HNBR-Elastomer von Bayer, als erstes bewähren müssen: Die Ölindustrie war die erste Branche, die in den achtziger Jahren auf den neuartigen Synthesekautschuk aufmerksam wurde. Das Leistungsprofil dieses Gummirohstoffs schien tatsächlich wie von einem Steckbrief der Ölplattformingenieure abgeschrieben: Therban ist – anders als andere Kautschuke für technische Gummiartikel – beständig gegen Erd- und Bohröl, widersteht Korrosionsschutzölen, weist einen bemerkenswert geringen Abrieb auf und läuft auch unter hohen Arbeitstemperaturen und Drücken zu großer Form auf – unter Bedingungen also, unter denen andere Gummisorten rasch zerbröseln. Die Erdölindustrie fertigte aus Therban – das inzwischen dank einer kürzlich in Leverkusen eröffneten 3000 jato-Produktionsanlage auch in Europa produziert wird – zum Beispiel meterlange Statoren für Verdrängermotoren, für deren Produktion die Bayer-Kautschukexperten eigens spezielle Gummimischungen entwickeln mussten, und Blow-Out-Preventer, wichtige Sicherheitsbauteile, die Bohrarbeiter vor Öl- und Gasfontänen schützen, die unter Druck aus dem Bohrloch austreten können. Früher verschlissen Gummiteile bei Bohrungen innerhalb eines Tages und mussten ersetzt werden, dank Therban sind langwierige Austauschoperationen nur noch alle vier bis fünf Tage fällig.

Foto Bayer AG
Unscheinbare Helfer im Haushalt: Der Hochleistungs-HNBR-Kautschuk Therban® des Leverkusener Marktführers in Sachen Synthesekautschuk, Bayer, bewährt sich nicht nur in der heißen Umgebung starker Motoren oder in der ölgeschwängerten Luft von Nordsee-Ölbohrplattformen, sondern auch im Haushalt und beim Italiener um die Ecke. Denn Chemikalienbeständigkeit heißt nicht nur, dass HNBR-Gummiwaren Säuren, Basen, aggressiven Kühlmedien und Hydraulikflüssigkeiten trotzen, sondern eben auch Wasch- und Spülmitteln, und zwar besser und vor allem länger als andere Kautschuksorten. Das ist der Grund, warum sich der High-end-Synthesekautschuk Therban, den Bayer seit Oktober 2000 auch in einer Leverkusener Produktionsanlage herstellt, auch in Spülmaschinen wieder findet – in den Dichtungen einer Wasserpumpe der Firma KACO. Neben der "kalten Schulter", die Therban auch modernen Detergenzien zeigt, war hier vor allem die Beständigkeit gegen Fette, Öle und Schmiermittel sowie die hervorragende Druckspannung (compression strain) ausschlaggebend. Diese Eigenschaften sorgen dafür, dass die Dichtungen der Pumpe seltener – im Idealfall nie – ausgewechselt werden müssen und der Servicemann seltener raus muss. Und der Italiener? Der trinkt Espresso. Und der kommt womöglich aus einer Maschine, die ebenfalls mit Therban-Dichtungen ausgestattet ist – heißer Wasserdampf und Druck sind eben kein Spielplatz für gewöhnliche Elastomere.

Quelle: Pressemitteilung der Bayer AG vom 23.11.2000
Hauptseite     Nachrichten     Anmerkungen

Letzte Änderungen: 24.11.2000